Impfchaos? Der große Hoffnungsanker Impfung droht zum Stolperstein zu werden.

Man kann die Sache drehen und wenden, wie man will: Der lange herbeigesehnte Start zum großen Impfen ist in Deutschland gründlich schiefgegangen. Schon macht das Wort vom Impfchaos die Rede – und schon fliegen die Beschuldigungen hin und her. Die Nerven der Verantwortlichen scheinen reichlich blank zu liegen – so blank, dass jetzt sogar der Bundesfinanzminister auf den Bundesgesundheitsminister losgeht und damit einen handfesten Krach in der Regierungskoalition in Kauf nimmt. Der große Hoffnungsanker Impfung droht zum Stolperstein zu werden. Für unseren Philosophen Christoph Quarch kommt das nicht überraschend.

Herr Quarch, war das Impf­cha­os vor­her­seh­bar?
Dass der Start der Impf­kam­pa­gne holp­rig wer­den wür­de, konn­te man sich aus­rech­nen.
Vor­her­seh­bar wäre viel­leicht zu viel gesagt. Aber dass der Start der Impf­kam­pa­gne holp­rig wer­den wür­de, konn­te man sich aus­rech­nen. In mei­nen Augen liegt das Haupt­pro­blem dar­in, dass die Ver­ant­wort­li­chen – und das sind die Bun­des­re­gie­rung und ihre Bera­ter von der Leo­pol­di­na – mei­nes Erach­tens die fal­schen Prio­ri­tä­ten gesetzt haben. Es war kei­ne gute Idee, zunächst die Risi­ko­grup­pe der Alten und Pfle­ge­be­dürf­ti­gen zu imp­fen. Für die­se Imp­fun­gen braucht man mobi­le Teams die sich in die der­zei­ti­gen Hot­spots des Infek­ti­ons­ge­sche­hens bege­ben müs­sen. Das ist müh­sam, kos­tet Zeit und bringt zunächst mal recht wenig. Viel sinn­vol­ler wäre es gewe­sen, mit Voll­dampf zunächst alle zu imp­fen, die an der Covid-Front arbei­ten: medi­zi­ni­sches Per­so­nal, Pfle­ge­per­so­nal, Ret­tungs­diens­te. Genü­gend Impf­stoff ist vor­han­den. Die Betrof­fe­nen sind gut mobi­li­sier­bar. Alles wäre viel einfacher.


Aber es muss doch zunächst mal dar­um gehen, die am meis­ten gefähr­de­ten Men­schen zu schüt­zen. Und das sind nun mal die Alten. So zu den­ken ist ehren­wert, aber nicht klug. In Not­fäl­len soll­te die Prio­ri­tät immer dar­auf lie­gen, die zu schüt­zen, die ande­re ret­ten kön­nen. Wir haben es zig­mal im Flug­zeug gehört: Bei Druck­ab­fall in der Kabi­ne erst die eige­ne Atem­mas­ke auf­set­zen, dann Kin­dern und Hilfs­be­dürf­ti­gen bei­ste­hen. Das ist die ver­nünf­ti­ge Rei­hen­fol­ge, denn – man muss die Din­ge manch­mal so klar benen­nen – in Not­si­tua­tio­nen sind die­je­ni­gen, die vie­le ande­re ret­ten kön­nen, wich­ti­ger als das ein­zel­ne Leben eines Hoch­be­tag­ten. Von daher war für mich auch völ­lig unbe­greif­lich, wie man die sym­bol­träch­ti­ge ers­te Imp­fung aus­ge­rech­net einer 103jährigen ver­ab­rei­chen konn­te. Wie mögen sich da die vie­len Pfle­ge­rin­nen und Pfle­ger gefühlt haben, die täg­lich Dut­zen­de kran­ker Men­schen betreu­en? Ande­re Län­der habe das bes­ser gemacht, wenn sie als ers­tes Kran­ken­pfle­ger und Ärz­tin­nen impften.

Aber sie kön­nen doch nicht den Ältes­ten die Imp­fun­gen vor­ent­hal­ten, wenn in die­sen Tagen Hun­der­te von ihnen an oder mit Covid ster­ben. Hier geht es um etwas sehr Grund­sätz­li­ches, das zu beden­ken wir uns fast immer scheu­en: das Ver­hält­nis des Ein­zel­nen zum Gemein­we­sen im Gan­zen. Wir haben uns in Deutsch­land – aus ver­ständ­li­chen Grün­den – ange­wöhnt, das ein­zel­nen Sub­jekt mit einem höhe­ren Wert zu beset­zen als das Kol­lek­tiv. Die­se Denk­wei­se ver­lei­tet uns dazu, als ers­tes die am meis­ten bedroh­ten Sub­jek­te schüt­zen zu wol­len – ohne dabei zu beden­ken, was für die Funk­tio­na­li­tät und den Bestand der Gesell­schaft die bes­te Lösung wäre. Und das wäre nach Maß­ga­be der prak­ti­schen Ver­nunft das kon­se­quen­te Durch­imp­fen aller, die für das Gemein­we­sen arbei­ten und dabei schon seit Mona­ten gro­ße Opfer brin­gen: dabei den­ke ich nicht nur an das medi­zi­ni­sche Per­so­nal, son­dern zum Bei­spiel auch an Leh­re­rin­nen und Leh­rer. Für die Zukunft unse­rer Gesell­schaft ist es von größ­ter Bedeu­tung, dass die Schu­len arbeiten. 


Sie wür­den also ernst­haft dafür plä­die­ren, die Funk­tio­na­li­tät des Gemein­we­sens vor den Schutz der Ein­zel­nen zu stel­len? Den Hilfs­be­dürf­ti­gen den Vor­zug geben, scheint mora­lisch gerecht­fer­tigt zu sein. Tat­säch­lich will nie­mand ger­ne die Ver­ant­wor­tung dafür über­neh­men, dass alte Men­schen an Covid ster­ben, wäh­rend die ers­ten Impf­do­sen an das Pfle­ge­per­so­nal ver­ge­ben wer­den. Aber das sys­te­mi­sche Den­ken kann in Aus­nah­me­si­tua­tio­nen gebie­ten, den Bestand des Gan­zen an ers­te Stel­le zu set­zen. Im Übri­gen wer­den im Lock­down mit der glei­chen Begrün­dung von Mil­lio­nen Men­schen gro­ße Opfer ver­langt. Das eigent­lich Bekla­gens­wer­te beim jet­zi­gen Impf­ge­ran­gel ist jedoch, dass wir über­haupt in die­se Situa­ti­on gekom­men sind und es nicht geschafft haben, die Gefähr­dets­ten schon viel frü­her zu schüt­zen – etwa durch die Ver­ga­be von Schutz­mas­ken schon im Som­mer oder den kon­se­quen­ten Ein­satz von Schnell­tests in Ein­rich­tun­gen. Der holp­ri­ge Impf­start ist die Kon­se­quenz aus zu viel Taten­lo­sig­keit der letz­ten Monate. 

Ver­öf­fent­licht Forum Nach­hal­tig Wirt­schaf­ten
Hören Sie ihn per­sön­lich im SWR-Pod­cast Frühstücks-Quarch.