Viele Menschen erleben die Gegenwart
als eine Zeit der dauerhaften Krise –
als eine dunkle Zeit der Ungewissheit und der Sorge.
Ihnen ist,
als habe eine finstere Nacht sich auf die Welt gelegt –
eine Nacht der Albträume und boshaften Gespenster,
die da heißen Krieg und Krankheit,
Hass und Hunger,
Leid und Ohnmacht,
Angst und Not.
Andere betäuben sich mit Schlafmitteln
und fristen ihre Tage,
ohne es zu merken,
in der Trance gedankenlosen Konsumierens.
Nur die Wenigsten sind wach und nüchtern.
Nur die Wenigsten sind aufgebrochen,
um in dieser Nacht nach einer Herberge zu suchen,
wo die neue Zeit geboren werden kann.
Nur die Wenigsten erleben diese Nacht
als Zeit des Neubeginns: als eine heilige Nacht.
Nur die Wenigsten sind Menschen wie die
„Dichter in dürftiger Zeit“, von denen Friedrich Hölderlin schrieb,
sie seien „wie des Weingotts heilige Priester,
welche von Lande zu Land zogen in heiliger Nacht.“
Der Weingott ist Dionysos. Die Griechen
verehrten ihn als den Gott des Wandels und des Neubeginns.
Die Nacht, sie war ihm heilig,
als die Zeit der Sammlung und Transformation:
Die Erinnerung an den vergangenen Tag
und die Aussicht auf die neue Morgenröte
sind in ihrer Gegenwart verwoben.
Das Gedächtnis der gewesenen Begeisterung
befruchtet in der Dunkelheit der Nacht
den Keim zur Wiederkehr des guten Geistes der Lebendigkeit.
Die Nacht ist heilig, weil in ihr der neue Tag gezeugt wird. „Wunderbar“,
schreibt Hölderlin von ihr, „ist die Gunst der Hocherhabnen und niemand
weiß, von wannen und was einem geschiehet von ihr.
So bewegt sie die Welt und die hoffende Seele der Menschen,
Selbst kein Weiser versteht, was sie bereitet…“
Die Hoffnung, die der Dichter hier besingt,
ist alles andere als ein platter Optimismus,
der dem Mantra huldigt, alles werde gut.
Solche Sprüche sind doch auch nur Sedativa,
die uns ruhig schlummern lassen sollen.
Nein, die Hoffnung, die in heil’ger Nacht gezeugt wird,
speist sich aus der Wahrheit, die der Weingott mit sich führt:
Alles ist im Wandel, nichts bleibt, wie es ist.
Das ist das Gesetz des Lebens, dem es sich verdankt,
dass immer Neues Leben geboren werden kann;
dass sich immer neu das Wunder der Weihnacht ereignen kann:
die Geburt, der Neubeginn, die Ankunft einer neuen Zeit
und einer neuen Gottheit.
Die Nacht, in der wir leben, trägt den Keim des Neuen in sich.
Die Zeit des Krieges und der Krise kann
in eine heilige Nacht gewandelt werden,
wenn wir uns dem Andrang des kommenden Gottes öffnen,
den die Griechen als Dionysos verehrten:
den Bringer neuen Lebens,
der die Nachtgespenster aufscheucht
und uns aus der Trance des Konsumierens rettet.
Wir, wir alle sind berufen, Wegbereiter einer neuen Welt zu sein.
„Göttliches Feuer auch treibet, bei Tag und bei Nacht,
aufzubrechen. So komm! dass wir das Offene schauen,“
sagt der Dichter – um das Feuer der Begeisterung in uns zu wecken.
Ob die Nacht der Gegenwart zur Heiligen Nacht der Zukunft wird,
liegt an unserem Mut und unserer Liebe, uns ins Offene zu wagen
und dem Geist des Lebens zu vertrauen,
dem die alten Griechen einst in ihren Göttern huldigten.
Nicht Technik oder Wissenschaft, nicht Politik oder Wirtschaft,
sondern die Begeisterung für das lebendige Sein der natürlichen Welt
wird diese Nacht in einen neuen Tag verwandeln.
Fürchtet euch nicht!
Trinkt und feiert!
Frohe Weihnachten.
Ein Weihnachtsgedicht von Christoph Quarch – Zeichnung von Martha Quarch