Europa ist herzkrank

Am Flücht­lings­pro­blem tritt die Krank­heit unse­res Kon­ti­nents deut­lich zu Tage: Ihm fehlt eine besee­len­de Vision
Es steht schlecht um Euro­pa. Die Krank­heit unse­res Kon­ti­nen­tes tritt in die­sen Tagen deut­lich zu Tage. Nicht nur im Streit um Grie­chen­land. Viel mehr noch im Gezer­re um die Flücht­lin­ge aus Afri­ka. Es ist beschä­mend zu erfah­ren, dass Frank­reich sei­ne Gren­zen dicht macht, um zu ver­hin­dern, dass Afri­ka­ner von Ita­li­en aus ins Land gelan­gen. Es ist beschä­mend, dass ein Land wie Groß­bri­tan­ni­en, sich soli­dar­los von dem Rest Euro­pas abwen­det, um kei­ne Flücht­lin­ge auf­neh­men zu müs­sen. Es ist beschä­mend, dass sich ost­eu­ro­päi­sche Staa­ten wohl groß damit tun, schwe­re NATO-Waf­fen bei sich zu sta­tio­nie­ren, aber kei­ne Flücht­lin­ge. Die gan­ze Art und Wei­se, wie die euro­päi­sche Poli­tik mit dem Flücht­lin­gen umgeht, schreit zu Himmel.
Es ist wie einst im alten Rom, und das ist kein gutes Zei­chen: Der Nie­der­gang beginnt am Rand. Wenn dort nicht bald trag­fä­hi­ge Lösun­gen gefun­den wer­den, wird aus dem Nie­der­gang ein Unter­gang. Erschüt­ternd ist, dass die­se Lösun­gen nicht in Sicht sind. Ja, dass man sich nicht ein­mal die Mühe macht, wirk­lich cou­ra­giert nach ihnen zu suchen: Sym­pto­me eines inne­ren Zer­falls, der an den Gren­zen klar zuta­ge tritt. In Grie­chen­land und in der Ukrai­ne, im gan­zen Mit­tel­meer und nun auch noch an den inner­eu­ro­päi­schen Gren­zen, an denen wir uns wie­der auf Kon­trol­len ein­stel­len müssen.
Wir haben die Tugen­den vergessen
Wo liegt das Pro­blem? Das Pro­blem steckt im Zen­trum, er steckt im Herz. Euro­pa ist herz­krank. Euro­pa fehlt etwas, das wirk­lich eint. Allein ein Wirt­schafts­raum zu sein, ist nicht genug. Und wenn in die­sen Tagen von einer »Wert­ge­mein­schaft« gespro­chen wird, dann ver­rät sich dar­in erst recht, dass es an einem ech­ten geis­ti­gen Gra­vi­ta­ti­ons­kern man­gelt. Denn die Wer­te, die benannt wer­den, sind alt und ver­braucht: Demo­kra­tie und Frei­heit. Das sind zwar schö­ne Qua­li­tä­ten, ohne Zwei­fel – doch bei­der Wert besteht von alters­her dar­in, dass sie im Diens­te ande­rer Ideen ste­hen – im Dienst von Idea­len oder Tugen­den: Gerech­tig­keit, Har­mo­nie, Leben­dig­keit, Mensch­lich­keit. Und eben die schei­nen in Ver­ges­sen­heit gera­ten zu sein. Man lobt die Mit­tel und ver­gisst den Zweck. Das kann auf Dau­er nicht gut gehen.
Kla­re Linie an den Grenzen
Euro­pa fehlt die See­le. Euro­pa fehlt eine Visi­on. Allein ein Wirt­schafts­raum zu sein, ist nicht genug. Zumal die Wirt­schaft schwä­chelt und das Sys­tem der frei­en Markt­wirt­schaft immer deut­li­cher zu erken­nen gibt, dass es sei­ne Wohl­stands­ver­spre­chen auf Dau­er nicht wird ein­hal­ten kön­nen – und dass das schon jetzt nur um den Preis von Aus­beu­tung und Natur­zer­stö­rung, von Ent­frem­dung des Men­schen und Auf­lö­sung sozia­ler Struk­tu­ren gelingt. Euro­pa braucht eine Visi­on, die trägt – die stark genug ist, die Men­schen an sich zu bin­den und die Neu­an­kömm­lin­ge zu inte­grie­ren; die stark genug ist, den Mut zu einem Schul­den­er­lass für Grie­chen­land auf­zu­brin­gen und eine kla­re Linie an den Gren­zen zu zie­hen. Nur wer im Innern fest ist, kann an der Gren­ze sicher sein.
Euro­pa braucht ein Maß von innen. Es kann nicht ewig wach­sen – nicht wirt­schaft­lich und auch nicht geo­gra­phisch. Wir wären gut bera­ten, eine kla­re Gren­ze im Osten zu zie­hen. Bis hier und nicht wei­ter. Um dann eine offen­si­ve und cou­ra­gier­te Poli­tik mit den Län­dern jen­seits die­ser Gren­ze zu ver­fol­gen: der Ukrai­ne, der Tür­kei, den nord­afri­ka­ni­schen Staa­ten. Dort sind unse­re Kräf­te und Ener­gien gut inves­tiert. Dort Infra­struk­tu­ren und einen nach­hal­ti­gen Grenz­ver­kehr auf­zu­bau­en, ist viel bes­ser, als das bis­he­ri­ge Rum­la­vie­ren und die lächer­li­che Stra­te­gie, mit Hil­fe von Front­tex Schif­fe-Ver­sen­ken spie­len zu wollen.
Eine öko­lo­gi­sche Vision
Der kla­ren Gren­ze nach außen ent­spricht ein kla­res Maß nach innen: Wirt­schaft­li­ches Wachs­tum kann das Maß nicht sein. Es kann nur mensch­li­ches Wachs­tum sein: ein Mehr an Mensch­lich­keit, an Nach­hal­tig­keit im Umgang mit ein­an­der und mit der Natur. Euro­pa braucht eine öko­lo­gi­sche Visi­on – die Visi­on eines gesun­den und leben­di­gen Oikos: eines gemein­sa­men Hau­ses – eines Hau­ses, in dem für vie­le Platz ist; in dem man sich gemein­sam hilft, weil man weiß, dass man zusam­men­ge­hört. Es braucht die Visi­on eines Lebens in span­nungs­vol­ler Har­mo­nie, in der die Viel­falt eben­so bestehen darf wie das Bewusst­sein dar­um, dass man ein gemein­sa­mes Haus bewohnt; die Visi­on einer Kul­tur, die es als höchs­tes Ziel erkennt, im Ein­klang mit der Natur und den gro­ßen Geset­zen der Erde zu leben. Der Grü­ne Kon­ti­nent – das wäre die Visi­on, die eint und die uns stark macht. Wer sich auf sie ver­pflich­tet gehört dazu. Wer nicht, bleibt drau­ßen – und darf sich einer guten Nach­bar­schafts­pfle­ge gewiss sein.
Doch davon sind wir weit ent­fernt. Im Augen­blick gilt »Jeder ist sich selbst der Nächs­te«. Man spielt »Flücht­lin­ge« ver­schie­ben. Ist doch egal, was in Ita­li­en und Grie­chen­land geschieht – Haupt­sa­che der eige­ne Wohl­stand ist nicht in Gefahr, so scheint das Cre­do, und das nicht nur in Deutsch­land. Über­all Augen­blick treibt der Öko­no­mis­mus sei­ne unheil­vol­len Kei­le ins euro­päi­sche Haus. Grie­chen­land ist nur ein Bei­spiel dafür, TTIP und CETA ein ande­res: die euro­päi­schen Wur­zeln (die nun ein­mal in Grie­chen­land lie­gen) wer­den igno­riert, die kul­tu­rel­le Iden­ti­tät Euro­pas um eines Frei­han­dels­ab­kom­mens mit Ame­ri­ka wil­len wird geopfert.
Neu den­ken lernen
Was ist kon­kret zu tun? Ich weiß es nicht. Ein­fa­che Lösun­gen wird es nicht geben. Gut wäre es, wenn wir die Grö­ße auf­bräch­ten, den Grie­chen zu ver­trau­en und der Regie­rung Tsi­pras die Chan­ce gäben, ihr Land auf ihre Wei­se zu refor­mie­ren, anstatt ihnen die Rezep­te einer geschei­ter­ten Markt­ideo­lo­gie auf­zwän­gen zu wol­len. Gut wäre es, ein für alle mal die Gren­zen der EU fest­zu­le­gen – ohne der Tür­kei und ohne der Ukrai­ne, um die­sen Staa­ten eben­so wie den nord­afri­ka­ni­schen Mit­tel­meer­an­rai­nern im sel­ben Atem­zug ein lang­fris­ti­ges und nach­hal­ti­ges Nach­bar­schafts­hil­fe­pro­gramm vor­zu­le­gen. Gut wäre es, Ita­li­en und Grie­chen­land mit den Flücht­lin­gen nicht allein zu lassen.
Am bes­ten aber wird es, ein Den­ken zu gebä­ren, doch das ist lei­der das, was den Men­schen am aller­schwers­ten fällt. Gleich­wohl soll­ten wir die alte For­mel von Jac­ques Delors zu neu­em Leben erwe­cken und als Bür­ge­rin­nen und Bür­ger einen Dis­kurs dar­über begin­nen, wie wir Euro­pa eine See­le geben kön­nen – eine See­le und ein Herz. Euro­pas Herz wird nur gesun­den, wenn es sei­nen Geist kuriert.