Sokrates fragt …
Social Media ist für ihn nichts anderes als der antike Markt von Athen: eine Gelegenheit, bei der man die Weltbilder seiner Zeitgenossen zum Einsturz bringt. Wie das funktioniert, erklärt der große Denker Sokrates in unserem fiktiven Interview mit dem Philosophen Christoph Quarch
THE RED BULLETIN: Was einst der Marktplatz war, sind heute die sozialen Medien. Dort können Menschen einander begegnen und sich zeigen. Selbst wenn sie physisch an unterschiedlichen Orten sind. Ist das nicht ein großartiges Instrument, um miteinander ins Gespräch zu kommen?
SOKRATES: Da haben Sie mir einen schönen Köder vorgeworfen, mein Freund. Denn Sie wissen genau, dass ich ein großer Fan von Gesprächen bin. Und warum nicht auch mal chatten oder twittern? Mir ist nur eines nicht ganz klar dabei: Wer sind eigentlich diejenigen, die auf Social Media kommunizieren?
Wie meinen Sie das? Man nennt diese Leute gemeinhin Nutzer.
Ja, das weiß ich. Aber was ist das – ein Nutzer? Sehen Sie: Bei uns im alten Griechenland kannte jeder die Tempelinschrift in Delphi: „Erkenne dich selbst!“ Deshalb frage ich jeden Nutzer, ob er sagen kann, was es heißt, ein Nutzer zu sein. Verstehen Sie den Punkt?
Ja, schon. Und was ist Ihrer Ansicht nach ein Nutzer?
Lassen Sie uns mal so tun, als wäre hier ein Nutzer, den wir fragen können: „Hey Nutzer, wer bist du?“ – „Komische Frage, aber schauen Sie sich mal mein Profil an, dann wissen Sie’s.“ – „Okay, da finde ich ein Foto und ein paar Infos über dich. Aber das war doch wohl noch nicht alles.“ – „Na klar, ich kann doch nicht mein ganzes Leben in mein Profil quetschen.“ – „Das will ich hoffen, aber dann bist du doch offenbar etwas anderes als dein Profil. Oder sagen wir so: Dein Profil ist ein Bild von dir – aber du bist nicht mit diesem Bild identisch.“ Okay, merken Sie, worauf das zuläuft?
Sie wollen sagen, dass man im Netz eigentlich nur mit einem Bild von sich unterwegs ist, aber nicht als die Person, die man eigentlich ist?
Bingo, genau das meine ich. Und jetzt kommt’s: Ein Bild kann wahr oder falsch sein. Es kann das, was es abbildet, getreu wiedergeben, es kann aber auch ein Zerrbild sein. Meistens ist letzteres der Fall: Das Bild, mit dem Sie in sozialen Medien unterwegs sind, gibt dann gar nicht zu erkennen, wer Sie tatsächlich sind, sondern nur, wer Sie gerne sein wollen. Es ist fast immer ein Wunschbild, das sie von sich haben. Und das ist ziemlich oft ein verdammter Fake.
Heißt das, wir machen uns in den Sozialen Medien alle etwas vor?
Vielleicht nicht alle, aber viele. Es ist wirklich wie früher auf dem Markt von Athen. Die Leute wollen alle Aufmerksamkeit. Sie wollen bewundert und wertgeschätzt werden. Deshalb ist ihnen jedes Mittel recht, um gut und attraktiv zu scheinen – und vergessen darüber gut und attraktiv zu sein. Das ist schade.
Haben Sie deshalb keinen Facebook-Account?
Och, ich werd‘ mir noch einen anlegen, denn für Social Media gilt am Ende das gleiche wie für den Markt: Du kannst darin als Fake-Avatar rumlaufen und dich mit deinem Profil verwechseln, du kann sie aber auch für Dialoge nutzen, in denen du anfängst, dich selbst zu erkennen und deine albernen Selbstinszenierungen als das durchschauen, was sie sind: fruchtlose Schattenspiele, die dich davon abhalten, wirklich du selbst zu sein.
Sokrates (470-399 v. Chr.) ist die Galionsfigur der europäischen Philosophie. Zu Lebzeiten war er berühmt und berüchtigt dafür, dass er auf dem Markt von Athen seinen oft selbstgefälligen Zeitgenossen auf den Zahn fühlte und ihre unhinterfragten Selbst- und Weltbilder bzw. Meinungen in Frage stellte. Damit zog er den Zorn einiger Mitbürger auf sich, die ihn in einem fragwürdigen Prozess zum Tode verurteilten.
(erschienen im The Red Bulletin 5/2021)