Wir brauchen eine neue Religion: die Rückbindung (re-ligio) an die Natur
Der Sündenfall lässt sich genau datieren. Er trug sich zu im Jahre 1637, dem Jahr, in dem der Philosoph René Descartes (1599-1650) seinen Discours de la Methode („Abhandlung über die Methode“) veröffentlichte. Im sechsten Abschnitt dieses Werkes fand Descartes die Formel für ein neues Selbstverständnis, das die Würde und den Adel des Menschen neu bestimmten sollte: Als maître et possesseur de la nature („Herr und Meister der Natur“) dürfe, ja solle der Mensch sich selbst verstehen, sei er doch durch seinen Intellekt bzw. seinen Geist dem Reiche der Natur um Längen überlegen. Alle Phänomene der Natur teilten in seinen Augen den Makel der Ungewissheit und Unzuverlässigkeit, wohingegen der sich seiner selbst bewusste Geist allein als unerschütterliches Fundament (fundamentum inconcussum) des Menschseins tauge. Rationalität und Intellekt gerieten nun zum Mastertool des menschlichen Subjekts – während die Welt da draußen, die Natur, nur noch als bloßer Gegenstand, ja als Ressource menschlicher Dienstbarmachung wahrgenommen wurde.
Sehnsucht nach Kontrolle
Sicher wäre es zu viel der Ehre – oder auch der Schande – Herrn Descartes allein zum Urheber des neuen Mindsets zu ernennen, der sich im 17. Jahrhundert in Europa durchzusetzen begann. Auch er war das Kind einer Zeit, die durch die Katastrophe des Dreißigjährigen Kriegs geprägt war und mehr als andere Epochen nach Gewissheit, Halt und Sicherheit verlangte. Diese kollektive Sehnsucht danach, die Kontrolle über das Leben zurückzugewinnen, dürfte auch in Descartes mächtig gewesen sein. Uns so ist sein Verdienst vor allem darin zu sehen, dass er sie auf die Formel brachte und auf dieses Weise der Geschichte Europas eine entscheidende Wendung gab: hin zum Mindset des Homo Faber, des machenden Menschen, der sich nunmehr anschickte, mit Hilfe von Wissenschaft und Technik die Herrschaft über den Planeten anzutreten. Nicht ohne Erfolg, wie wir alle wissen. Der Triumphzug der Technik und die Fülle ihrer Fortschritte sind beispiellos – die Vernichtung der Natur, der Naturvölker und der Artenvielfalt ebenso.
Tatsächlich ist kein Zweifel daran möglich, dass sich der abendländische Mensch der Neuzeit mit rasanter Geschwindigkeit von der Natur entfremdet und entfernt hat. Und nicht nur er, denn infolge der ökonomischen Kolonialisierung des gesamten Globus hat der Westen die naturferne Matrix seines Denkens, seiner Wissenschaft und seiner Wirtschaft weltweit in den Köpfen der Menschen implementiert. Wer nach einem Grund dafür sucht, warum wir uns im 21. Jahrhundert so schwer damit tun, den Herausforderungen des Klimawandels, der Vergiftung der Ozeane und dem Massensterben ganzer Arten beherzt zu begegnen, wird hier fündig: Der Fisch stinkt vom Kopf her; die Matrix unseres Denkens ist defekt; unser Hirn arbeitet mit einem schadhaften Betriebssystem. Sein Name ist, mit einem Wort des Philosophen Martin Heidegger, Ge-Stell.
Die Deformation der Welt zur Ressource
Das klingt befremdlich, ist bei näherer Betrachtung aber sehr erhellend. Was Heidegger mit dem Begriff Ge-Stell zum Ausdruck bringen wollte, ist der Umstand, dass der Mensch der Gegenwart die Welt, in der er lebt, zu stellen trachten – so wie ein Kommissar einen Verbrecher stellt. Die Wissenschaft der Neuzeit tritt an, um Sachverhalte festzustellen; unsere Technik tritt an, um Produkte herzustellen, die auf dem Markt ausgestellt, im Internet eingestellt, von Kunden bestellt, von der Post zugestellt und zuhause aufgestellt werden. Bei alledem wird die Natur in einen Bestand – d.h. zu einer Ressource – konvertiert, die von unserer nach Maßgabe einer Maschine entworfenen Wirtschaft bestellt bzw. nutzbar gemacht wird, um so die seit Descartes Tagen erstrebte Meisterschaft und Macht zu erlangen. Vollkommen werden soll sie nach den Wünschen der Strategen bei Google, Amazon und Co., indem die Natur künftig vollends in einen verarbeitbaren Datenbestand konvertiert und auf diese Weise der Nichtigkeit anheimgegeben wird. Wenn die Matrix des Ge-Stells im digitalen Zeitalter total wird, könnte es um die Natur geschehen sein. Und womöglich auch mit uns.
Diese Sorge kannten schon ganz andere; und das nicht erst seit gestern, sondern schon vor mehr als 200 Jahren. Das klingt auf Anhieb überraschend, sollte man doch meinen, dass die Welt zu einer Zeit vor der industriellen Revolution noch in Ordnung war und die Menschen herzlich wenig Grund dazu hatten, den Verlust der Natur zu beklagen. Wohl wahr, aber es war auch nicht der Verlust der Natur, den Naturphilosophen und romantische Dichter um 1800 herum beklagten, sondern das gestörte Verhältnis des Menschen zu Natur, von dem man damals ahnte, dass es dem Menschen schaden würde – auch wenn man sich noch nicht vorstellen konnte, welchen Schaden die Natur selbst eines Tages nehmen würde.
Einer der sich diesbezüglich besonders hervortat, ist der Dichter Friedrich Hölderlin, dessen 250. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert wird. Er hatte ein überaus feines Gespür für die verhängnisvollen Auswirkungen der Entfremdung des gerade erst in seinen Grundzügen erkennbaren modernen Menschen von der Natur und wird nicht müde den Verlust an Lebendigkeit, Freiheit und Menschlichkeit zu beklagen, der mit dem Cartesischen Programm der Herr- und Meisterschaft über die Natur einherzugehen drohte. In seinem Roman Hyperion von 1796 schreibt er: „Ich sage dir: es ist nichts Heiliges, was nicht entheiligt, nicht zum ärmlichen Behelf herabgewürdigt ist bei diesem Volk, und was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält, das treiben diese allberechnenden Barbaren, wie man so ein Handwerk treibt, und können es nicht anders, denn wo einmal ein menschlich Wesen abgerichtet ist, da dient es seinem Zweck, da sucht es seinen Nutzen.“ Nutzbarmachung, Zweckrationalität, Berechenbarkeit – es sind die Fetische des digitalen Homo Oeconomicus der Gegenwart, die der Dichter an den Pranger stellt. Denn sie sind es, die das, was „was selbst unter Wilden göttlichrein sich meist erhält“ – die Natur – zum bloßen Material- oder Datenbestand deformiert haben.
„Ihr zerreißt, wo sie euch duldet“
So sind es die von der Matrix des Ge-Stells und ihrer instrumentellen Vernunft durchdrungenen Menschen der Moderne, denen Hölderlin entgegenruft: „Ihr sorgt und sinnt, dem Schicksal zu entlaufen und begreift es nicht, wenn eure Kinderkunst nichts hilft; indessen wandelt harmlos droben das Gestirn. Ihr entwürdiget, ihr zerreißt, wo sie euch duldet, die geduldige Natur, doch lebt sie fort, in unendlicher Jugend. […] O göttlich muß sie sein, weil ihr zerstören dürft, und dennoch sie nicht altert und trotz euch schön das Schöne bleibt!“ Und weiter: „Oder ist nicht göttlich, was ihr höhnt und seellos nennt? Ist besser, denn euer Geschwätz, die Luft nicht, die ihr trinkt? der Sonne Strahlen, sind sie edler nicht, denn all ihr Klugen? der Erde Quellen und der Morgentau erfrischen euern Hain; könnt ihr auch das? Ach! töten könnt ihr, aber nicht lebendig machen, wenn es die Liebe nicht tut, die nicht von euch ist, die ihr nicht erfunden.“
Die „geduldige“ Natur verdient das Prädikat „göttlich“, weil sie umfassender und größer ist, als alles, was Menschen je ersonnen haben – einschließlich der avanciertesten Künstlichen Intelligenzen. Und die einzig passende Weise, ihr zu begegnen, sind Andacht, Ehrfurcht, Scheu und Liebe: Eigenschaften, die wir Menschen der Moderne gar zu oft belächeln – und uns deshalb um das Beste bringen, was das Leben der Natur (es gibt kein anderes!) uns bietet: ihren ständigen Anspruch und Zuspruch, der uns Menschen kräftigen und stärken kann – ja, der dem Leben die Erfüllung schenkt, nach der wir alle uns so sehnen und die wir uns meistens gerade nicht von der Hinwendung zur Natur versprechen, sondern von Konsum und Kommerz, oder gar von Vergeistigung und spiritueller Weltentrückung. Daraus aber wächst uns niemals die Erfüllung zu, die einem offenen Herzen im Gegenüber mit der Natur zuteil wird.
Der Geliebte vor der Geliebten
Auch davon kündet Hölderlin in seinem Hyperion: „Aber du scheinst noch, Sonne des Himmels! Du grünst noch, heilige Erde! Noch rauschen die Ströme ins Meer, und schattige Bäume säuseln im Mittag. Der Wonnegesang des Frühlings singt meine sterblichen Gedanken in Schlaf. Die Fülle der allebendigen Welt ernährt und sättiget mit Trunkenheit mein darbend Wesen. O selige Natur! Ich weiß nicht, wie mir geschiehet, wenn ich mein Auge erhebe vor deiner Schöne, aber alle Lust des Himmels ist in den Tränen, die ich weine vor dir, der Geliebte vor der Geliebten.“ Aus diesen Worten spricht ein klares Wissen darum, dass nichts uns Menschen so erfüllt, wie die Begegnung mit der Natur bzw. der „alllebendigen Welt“, wie Hölderlin sie nennt. Er weiß: „Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden.“ Und er beschreibt die Wonne dieses Rückgebunden-Seins and die Natur mit tief bewegten Worten: „Mein ganzes Wesen verstummt und lauscht, wenn die zarte Welle der Luft mir um die Brust spielt. Verloren ins weite Blau, blick ich oft hinauf an den Aether und hinein ins heilige Meer, und mir ist, als öffnet‘ ein verwandter Geist mir die Arme, als löste der Schmerz der Einsamkeit sich auf ins Leben der Gottheit.“
Man könnte dies als pathetischen Überschwang eines überspannten Dichters hallten – würde damit aber nur bekunden, wie weit fortgeschritten schon die Denaturierung des eigenen Empfindens ist. Denn in Wahrheit spricht aus diesen Worten ein kristallklares Bewusstsein dafür, was in unserer denaturierten Welt allein Not tut: eine neue Rückbindung an die Natur – eine neuerliche Religio (von lat.: religare – rückbinden), die uns Menschen dazu bringt, allen Allmachts- und Herrschaftsphantasien über die Natur abzuschwören, auch, oder gerade, den digitalen Homo Deus-Träumen (Juval Noah Harari) aus den Spinnstuben der IT-Giganten im Silikon-Valley. Nicht die Flucht in virtuelle oder leiblos spirituelle Welten wird die Menschheit weiterbringen, sondern eine radikale, ja disruptive Abkehr von der Maschinenmatrix des Gestells. Sie durch eine Matrix der natürlichen Lebendigkeit zu ersetzen, ist der Ausweg, der uns aus Sackgasse des digitalen Homo Oeconomicus noch bleibt. Und es ist zugleich der Weg zu dem, was wirklich zählt und wirklich wichtig ist im Leben eines Menschen: der Weg zur Liebe und der Weg zum Sinn des Lebens, der allein darin besteht, das Leben, das uns die Natur geschenkt hat, dankbar und in Demut anzunehmen und bejahen; und mit der Diotima aus Hölderlins Roman Hyperion zu sagen: „Zu sein, zu leben, das ist genug, das ist die Ehre der Götter; und darum ist sich alles gleich, was nur ein Leben ist, in der göttlichen Welt, und es gibt in ihr nicht Herren und Knechte. Es leben umeinander die Naturen, wie Liebende; sie haben alles gemein, Geist, Freude und ewige Jugend.“