Ein Wort zu Deutschland

Zwei Ereig­nis­se fal­len in die­sen Tagen zusam­men: Das Aus­schei­den der deut­schen Fuß­ball­na­tio­nal­mann­schaft bei der Welt­meis­ter­schaft in Katar und das ein­jäh­ri­ge Dienst­ju­bi­lä­um der Bun­des­re­gie­rung unter Olaf Scholz. Die Kon­stel­la­ti­on ist erhel­lend. Sie wirft ein unge­wöhn­li­ches kla­res Licht auf die geis­ti­ge Groß­wet­ter­la­ge in Deutsch­land. Resul­tat: Sie ist nicht gut, gar nicht gut.

Aus Umfra­gen und Kom­men­ta­ren tönt fast durch­gän­gig der­sel­be Grund­te­nor: Alles ist schlecht! Ein jüngs­te Erhe­bung des SPIEGEL ver­rät: „61 Pro­zent der Men­schen stel­len der Ampel ein schlech­tes Zeug­nis aus, ein gro­ßer Teil von ihnen bewer­tet die Arbeit der Ampel sogar mit »sehr nega­tiv« (45 Pro­zent)“. Was genau die Grün­de dafür sind, erfährt man nicht; nur dass in Ost­deutsch­land die Unzu­frie­den­heit am größ­ten ist.
Der ARD-Deutsch­land­Trend ver­mel­det, das Anse­hen der Deut­schen Fuß­ball­bun­des (DFB) habe durch die Dis­kus­si­on um die „One Love“-Binde von Kapi­tän Ema­nu­el Neu­er stark an Anse­hen ver­lo­ren. Die Hand-vor-dem-Mund-Ges­te beim Mann­schafts­bild vor dem ers­ten Spiel sei unzu­rei­chend gewe­sen. Und bei der Suche nach den Grün­den für das frü­he Aus­schei­den bei der WM wer­den genüss­lich Trai­ner, Mana­ger, Funk­tio­nä­re und Spie­ler ins Visier genom­men.

Häme, Spott, Kri­tik, Empö­rung. Das ist die Ton­la­ge des öffent­li­chen Dis­kur­ses in Deutsch­land – zumin­dest immer dann, wenn er den Reprä­sen­tan­ten des Lan­des gilt. Ob auf dem Fuß­ball­platz oder in Ber­lin: Selbst unter den Leit­me­di­en scheint ein Wett­be­werb ent­brannt zu sein, wer es in der Kunst des Schlecht-Redens zur größ­ten Meis­ter­schaft bringt.

War­um lese ich nir­gends eine Wür­di­gung des deut­schen Kaders, dass er der EINZIGE bei die­ser WM war, der den Mumm hat­te, eine an den Gast­ge­ber und die FIFA adres­sier­te Pro­test­ak­ti­on zu wagen? War­um lese ich nir­gends eine Wür­di­gung des­sen, dass die „Ampel“ uns ein Jahr lang tap­fer und ver­gleichs­wei­se unbe­scha­det durch die schwers­te außen­po­li­ti­sche Kri­se seit dem 2. Welt­krieg navi­giert hat, dass sie in der Pan­de­mie-Bekämp­fung (anders als die Vor­gän­ger­re­gie­rung) kei­nen Feh­ler began­gen hat, dass sie den Mut auf­bringt, diver­se unter Ange­la Mer­kel ver­schla­fe­ne aber drin­gend not­wen­di­ge Reform­pro­jek­te durch­zu­zie­hen: Ener­gie­wen­de, Staats­an­ge­hö­rig­keit, Sozi­al­po­li­tik, Ver­tei­di­gung…? Ist die Lis­te viel­leicht zu lang?
Woher die Lust am Meckern? Woher die Nei­gung zur Selbst­kas­tei­ung? Selbst­hass der Deut­schen – gera­de da, wo sie sich am patrio­tischs­ten geben? Mis­an­thro­pie der Jour­na­lis­ten? Eine ein­fa­che Ant­wort gibt es nicht. Signi­fi­kant ist, dass Mut und Tap­fer­keit – zwei einst­mals hoch geschätz­te Tugen­den – weder in der Poli­tik noch auf dem Fuß­ball­platz – gewür­digt wer­den. Und dass sich ein Vier­tel der Deut­schen nach der kusche­li­gen Null-Ver­ant­wor­tung bzw. Null-Risi­ko-Poli­tik der Mer­kel-Zeit zurück­sehnt. Signi­fi­kant ist auch, dass immer da, wo es um die Zukunft geht, die Zurück­hal­tung am größ­ten ist: Wie kann es sein, dass der Bil­dungs­stand sinkt? Wie kann es sein, dass wir viel zu wenig Kinderärzt*innen, Erzieher*innen und Leh­rer haben? Wo ist der Mut zu Zukunft?
Mut und Tap­fer­keit hei­ßen auf Fran­zö­sisch Cou­ra­ge. Das Wort lei­tet sich her von Coeur: das Herz. Und das weist eine Spur zur Ant­wort auf die Fra­ge, was mit unse­rem Land pas­siert ist: Herz­los sind wir, gefan­gen in Selbst­be­züg­lich­keit. Besorgt allein um unse­re Sicher­heit und unser Wohl­erge­hen. Unem­pa­thisch, aber schnell dabei, uns über ande­re zu stel­len und sie mora­lisch abzu­kan­zeln. Das ein­zi­ge Gefühl, zu dem wir noch fähig zu sein schei­nen, ist Empö­rung. Kein Wun­der, dass die stets auf Quo­te schie­len­den Medi­en lie­ber die­se nega­ti­ve Stim­mung bedie­nen als Lob, Zustim­mung und … Lie­be zu spen­den.

Gewiss, gewiss: Es gibt auch ande­re. Ja, es gibt die vie­len Tau­sen­de im Ehren­amt und in sozia­len Tätig­kei­ten. Aber sei­en wir für einen Augen­blick ehr­lich zu uns selbst: Das alles reicht nicht, um eine Gesell­schaft stark zu machen für die Her­aus­for­de­run­gen, die auf uns war­ten. Es ist zu wenig, um resi­li­ent zu wer­den. Und zur Schau gestell­ter Opti­mis­mus bringt uns auch nicht wei­ter. Was dann?

Kei­ne Fra­ge ist schwie­ri­ger als die­se. Des­halb darf man sich nicht wun­dern, wenn die Ant­wort schwer ver­ständ­lich scheint. Sie heißt: Geist. Wir brau­chen Geist. Einen guten Geist. Nicht den Ungeist, der stets ver­neint, son­dern den leben­di­gen Geist, der bejaht, der nach vor­ne schaut, der die Her­zen berührt und ein beherz­tes Han­deln wür­digt. Der Geist, der gegen tau­send Wider­stän­de ange­hen muss; der Geist, der sich nicht durch mora­li­sches Gere­de fes­seln lässt; der Geist, der lie­ben und auch kämp­fen kann; der trotz­dem Ja zum Leben sagt. Ein biss­chen mehr von die­sen Geist – ein biss­chen nur als Gegen­gift zur Häme, Spott und Hohn in unse­ren Medi­en – und wir könn­ten alle Mit­ein­an­der an einer wun­der­vol­len Zukunft arbei­ten – und 2024 Euro­pa­meis­ter wer­den.

Chris­toph Quarch, Ful­da 4.12.2022