Donald Langstrumpf – der neue Pippi-Kult macht selbst vor der Politik nicht halt

War­um ein vor­pu­ber­tä­res Mäd­chen bes­te Chan­cen hat, zum Idol des Jah­res 2017 zu werden
Sie ken­nen doch die Pip­pi Lang­strumpf, oder? Rote Zöp­fe, Som­mer­spros­sen, rot-weiß gestreif­te Rin­gel­so­cken, cir­ca 12 Jah­re, wohn­haft in der Vil­la Kun­ter­bunt; auf­fäl­lig durch ein gerüt­tel­tes Maß an Selbst­be­wusst­sein und Chuz­pe; meis­tens in Beglei­tung zwei­er Tie­re und zwei­er Men­schen­kin­der namens Tom und Anni­ka. Sie ken­nen sie und fra­gen sich, wie­so Sie sich hier mit ihr befas­sen sol­len? Ganz ein­fach: Weil Pip­pi Lang­strumpf bes­te Chan­ce hat, zur Kult­fi­gur des Jah­res zu werden.
Tat­säch­lich sehen immer mehr Men­schen – Frau­en vor­nehm­lich – in Pip­pi ihr Idol. Frau­en­zeit­schrif­ten fei­ern die »Pippi-Langstrumpf«-Strategie und erklä­ren ihren Lese­rin­nen, wie sie end­lich Glück und Erfül­lung fin­den: indem sie Pip­pis Man­tra fol­gen, das da lau­tet: »Ich mach mir die Welt, wide-wide wie sie mir gefällt«. Nach­dem erst das Selbst­bild zum Sel­fie wur­de, kommt nun auch das Welt­bild an die Rei­he. Egal ob mein Leben oder die Welt – ich mach’s mir selbst. Also sprach die Zeitgeistin.
»Jetzt bist du dran«
Sich das Leben nach dem eige­nen Gus­to ein­rich­ten: Die Pip­pi-Stra­te­gie fin­det Bei­fall in einer Sze­ne, die seit Jah­ren schon das Ego auf­peppt. Autoren wie Eva-Maria Zur­horst, Veit Lin­dau oder Robert Betz errei­chen Best­sel­ler-Auf­la­gen mit Titeln wie »Hei­ra­te dich selbst« / »Dein Weg zur Selbst­lie­be« / »Lie­be dich selbst und es ist egal wen du hei­ra­test«. Der Can­tus Fir­mus die­ser Evan­ge­lis­ten des Ego ist stets der­sel­be: »Jetzt bist du dran!«; »Gönn dir was!«; »Sieh zu, dass du nicht zu kurz kommst!« Und die (meist) Lese­rin­nen­schaft setzt die Maxi­men eif­rig um.
Bei der Pip­pi-Stra­te­gie kommt nun aber eine Kom­po­nen­te zur Gel­tung, die in der Flut der Selbst­lie­be-Rat­ge­ber wohl ange­legt war, tat­säch­lich aber erst bei den Pip­pi-Fans zum vol­len Durch­bruch kommt: die Post­fak­ti­zi­tät. »Post­fak­tisch«, so viel am Ran­de, wur­de wohl nicht zufäl­lig gera­de erst zum Wort des Jah­res 2016 gekürt. Was sagt das Wort? Post­fak­tisch ist, wer sich nicht so sehr dafür inter­es­siert, was tat­säch­lich – fak­tisch – in der Welt geschieht, son­dern ledig­lich dafür, wie es sich anfühlt oder wahr­ge­nom­men wird. Das heißt: Post­fak­tisch ist, wer beim Wet­ter­be­richt nicht die gemes­se­ne, son­dern nur die gefühl­te Tem­pe­ra­tur anschaut. Post­fak­tisch ist auch, mit Pip­pi die fak­ti­sche Welt aus­zu­blen­den und sich die statt­des­sen eine eige­ne Welt zu machen – ganz so, wie es gefällt.
Die Welt als Vil­la Kunterbunt
Ja, ist denn irgend­et­was schlecht dar­an? Was ist denn schon dabei, wenn ein jun­ges Ding sich die Welt zu ihrem Spiel­platz macht? Ist es nicht viel-mehr groß­ar­tig, sich eine Vil­la Kun­ter­bunt zu schaf­fen, in der man völ­lig frei und unge­zwun­gen sei­ne Spie­le spie­len kann. Ist es nicht gera­de eine Fei­er höchs­ter Frei­heit. Ganz im Sin­ne von Pip­pis Schöp­fe­rin, der gro­ßen Astrid Lind­gren, die sag­te: »Frei­heit bedeu­tet, dass man nicht unbe­dingt alles genau­so machen muss, wie ande­re Leu­te.« So gese­hen wäre doch das Pip­pi-Spiel der Inbe­griff der Frei­heit. Und der unlängst auf einer Frau­en­zeit­schrift abge­druck­te Titel: »Ich mach mir mein Leben, wie es mir gefällt«, wäre die For­mel, wie man dort­hin kommt.
So mag es schei­nen, aber so ist es nicht. Gewiss, beim Spie­len sind wir Men­schen frei und es ist eine groß­ar­ti­ge Sache, wenn Men­schen, auch Erwach­se­ne, in Spiel­wel­ten ein­tau­chen. Aber das eige­ne Leben zur Vil­la Kun­ter­bunt zu machen und die Erfül­lung dar­in suchen, sich voll und ganz aus­zu­spie­len – das wird schnell zum fal­schen Spiel, das am Ende des Tages nur Unglück und Leid in die Welt trägt.
Das wird einem klar, sobald man sich die Mühe macht, genau­er hin­zu­schau­en und die Fra­ge auf­zu­wer­fen, was es denn mit dem Spie­len eigent­lich auf sich hat. Dann wird man rasch erken­nen, dass Spie­le uns nur dann gut tun, wenn sie ein paar wich­ti­ge Vor­aus­set­zun­gen erfül­len. Die ers­te Vor­aus­set­zung ist, dass Spie­le einen klar umris­se­nen Spiel­platz, ein Spiel­feld und eine Spiel­zeit brau­chen. Denn ein Spiel funk­tio­niert nur dann, wenn klar ist, dass es jen­seits des Spiels noch eine ande­re, eine Nicht-Spiel­welt gibt, die vom eige­nen Spiel völ­lig unbe­ein­flusst bleibt. Man kann gewiss die Vil­la Kun­ter­bunt zu sei­ner Spiel-Welt machen – aber man kann nicht die Welt zu sei­ner Vil­la Kun­ter­bunt machen. Auch nicht sein Leben, es sei denn, dass die Vil­la Kun­ter­bunt eine Ein­sie­de­lei ist, aus der man nie heraustritt.
Fal­sches Spiel
Sowe­nig man die Welt unge­fragt zu sei­nem Spiel­platz machen kann, sowe­nig auch die ande­ren Men­schen. Man spielt nur dann wirk­lich, wenn man weiß, dass die­je­ni­gen, die jen­seits des Spiel­fel­des leben, kei­ne Mit­spie­ler sind und auch nicht will­kür­lich ins Spiel ein­be­zo­gen wer­den kön­nen. Tut man es trotz­dem, miss­braucht man sie. Dann spielt man mit ihnen auf fau­le Wei­se, näm­lich ohne sie zu Mit­spie­lern zu machen. Mit­spie­ler sind sie nur, wenn sie aus frei­en Stü­cken mit im Spiel sind.
Das aber setzt vor­aus, dass sie die Regeln tei­len. Wenn ich ande­ren mei­ne eige­nen Regeln über­bra­te, spie­le ich nicht mit ihnen, son­dern beherr­sche sie. Genau das tut Pip­pi Lang­strumpf, wenn auch auf char­man­te Wei­se, fin­det sie doch in ihren Spiel­ka­me­ra­den Tom und Anika will­fäh­ri­ge Mit­spie­ler, die sich bedin­gungs­los ihrem Regel­werk unter­wer­fen. Ande­re, die sich wie die Prus­se­li­se ver­se­hent­lich in ihre Spiel­welt ver­ir­ren, haben schwer zu leiden.
Das muss zu den­ken geben. Wenn die heu­ti­gen Pip­pi-Fans ihr Leben so machen wol­len, wie es ihnen gefällt, dann gibt es nur zwei Mög­lich­kei­ten: Ent­we­der, sie schaf­fen sich ihre eige­ne wohl­de­fi­nier­te und klar von der Außen­welt abge­grenz­te Spiel­welt, zu der nur sie oder eini­ge weni­ge ande­re Zutritt haben – oder sie wei­ten ihre Spiel­zo­ne gewalt­sam aus und zwin­gen den ande­ren ihr Regeln auf, was aber nur so lan­ge gut geht, wie die ande­ren mit­spie­len. So oder so steht am Ende des gro­ßen Pip­pi-Spiels meist nicht die gro­ße Frei­heit, son­dern die gro­ße Ein­sam­keit. So, wie es Udo Jür­gens einst besang: »Du bist frei – end­lich frei, aber du bist nicht befreit, du bist nur ver­dammt in alle Einsamkeit.«
Die ver­meint­li­che Frei­heit der Pip­pi Lang­strumpf erweist sich mit­hin als ein fal­sches Spiel: als post­fak­ti­sches Refu­gi­um für die­je­ni­gen, die sich nicht län­ger dem Spiel des fak­ti­schen Lebens und sei­nen Regeln unter­wer­fen wol­len; die sich von einem fla­chen Frei­heits­ver­ständ­nis blen­den las­sen, obgleich schon die anti­ken Den­ker wuss­ten, dass es nicht trägt. Denn frei, so lehr­te etwa Aischy­los, ist nicht, wer der eige­nen Natur als sei­nem »Eigen­ge­setz« folgt, son­dern »wer das gemein­sa­me, gött­li­che Gesetz zu sei­nem eige­nen macht.«
Abge­sang der Emanzipation
Von die­ser Weis­heit haben wir uns weit ent­fernt. Viel näher liegt uns, dem Eigen­ge­setz zu fol­gen und die Frei­heit – frei nach Astrid Lind­gren – dort zu suchen, wo wir etwas anders machen; unter völ­li­ger Aus­blen­dung der Fra­ge, ob sich das, was wir da machen, auch ins Gro­ße-Gan­ze ein­fügt: ob es stimmt und gut ist; in völ­li­ger Igno­ranz des Umstan­des, dass wir nur da frei sind, wo wir uns nicht gegen die Welt und ande­re behaup­ten müs­sen, son­dern im Ein­klang mit ihnen sind.
Bedenk­lich ist, dass im Jah­re 2017 so vie­le Frau­en die­sem fla­chen Frei­heits­glau­ben fol­gen. Könn­te es sein, dass die prä­pu­ber­tä­re Pip­pi-Frei­heit der trau­ri­ge Rest des­sen ist, was ein­mal als Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung ange­fan­gen hat und dann irgend­wie unter die Räder des ego­zen­tri­schen Zeit­geis­tes geriet: Nun fär­ben sie Haa­re rot, flech­ten sich Zöp­fe und schaf­fen sich eine Traum­welt. Und bil­den sich ein, sie könn­ten ein Pferd in die Luft stem­men. Dabei ist der Pip­pi-Kult am Ende selbst ein Luftschloss.
Frei­heits­sta­tue mit roten Zöpfen
Oder etwa nicht? Steht er nicht gera­de jetzt im Begriff, Wahr­heit zu wer-den? Man­ches spricht dafür. Wenn auch auf uner­war­te­te Wei­se. Einer näm­lich zieht ihn durch, mit gro­ßem Erfolg. Einer, von des­sen Lip­pen das »wide­wi­de wie sie mir gefällt« aller­dings weit weni­ger char­mant klingt: Donald Trump, der Mann, der ange­tre­ten ist, um sich die Welt nach sei­nem Bil­de zu erschaf­fen und ihr, ohne wenn und aber, sei­ne Regeln auf­zu­zwin­gen. Der Mann, der wil­lens und – schlimms­ten­falls – auch in der Lage dazu ist, erst die USA und dann die Welt zu sei­ner Vil­la – na viel­leicht nicht gera­de kun­ter­bunt, eher zum wei­ßen Haus – zu machen; der Mann, der so tut, als kön­ne er Pfer­de in die Luft stem­men und des­sen Intel­lekt durch­aus prä­pu­ber­tä­re Züge trägt. Aus­ge­rech­net an ihm wird erkenn­bar, wie falsch das Spiel des Pip­pi-Kul­tes ist. Und wie gefährlich.
Denn die­ser Pip­pi-Prä­si­dent hat nicht nur einen Tom und eine Anika für sich ein­ge­nom­men, son­dern die Mehr­heit der Bür­ger einer Super­macht. Vor allem der Bür­ge­rin­nen, wofür nun en pas­sent eine Erklä­rung gefun­den sein könn­te. Wie, wenn Trump tat­säch­lich die leben­de Pro­jek­ti­ons­flä­che all derer ist, die sich nach jener Pip­pi Frei­heit seh­nen, die nicht mehr fragt, was gut und wahr ist, son­dern nur noch, was gefällt? Und das aus­ge­rech­net in den USA, die einst als Land der gro­ßen Frei­heit gal­ten. Viel­leicht soll­ten wir Trump vor­schla­gen, der Frei­heits­sta­tue Rin­gelstrümp­fe anzu­zie­hen und Zöp­fe zu flech­ten. Damit wäre immer­hin der Wahr­heit genü­ge getan. 2017 könn­te wirk­lich zum Jahr der Pip­pi werden.