Die Macht der Würde. Von der Maßgeblichkeit des Lebens

von Chris­toph Quarch (Vor­trag vom 3. März 2008 – Reinheim)

  1. Ein­lei­tung

Zu Beginn des 21. Jahr­hun­derts befin­det sich die Mensch­heit in einer dra­ma­ti­schen Kri­se. Sin­nen­fäl­li­ger Aus­druck die­ser Kri­se ist der glo­ba­le Kli­ma­wan­del, der bereits ange­ho­ben hat und in den kom­men­den Jah­ren das Ant­litz die­ser Welt tief­grei­fend ver­än­dern wird. Nichts wird mehr sein wie es war – und die­ser Her­aus­for­de­rung wird nur zu begeg­nen sein, wenn die Ent­wick­lung des mensch­li­chen Geis­tes mit den bevor­ste­hen­den kli­ma­ti­schen und öko­lo­gi­schen Ver­än­de­run­gen Schritt hal­ten kann. Dass dies gelin­gen wird, ist mehr als unwahr­schein­lich. Denn bei Lich­te bese­hen bedarf es nicht mehr und nicht weni­ger als eines glo­ba­len Bewusst­seins­wan­dels, eines radi­ka­len Umden­kens bzw. einer ganz neu­en Welt­sicht. Alle Poten­zia­le des mensch­li­chen Geis­tes aus allen kul­tu­rel­len und reli­giö­sen Tra­di­tio­nen ste­hen des­halb heu­te vor der Her­aus­for­de- rung, sich in ein umfas­sen­des glo­ba­les Ethos zu inte­grie­ren – getra­gen von einer glo­ba­len Spi­ri­tua­li­tät, die nicht län­ger an den Gren­zen der eige­nen Kon­fes­si­on halt macht, son­dern auf­bricht in die all­um­fas­sen­de, uni­ver­sa­le Wirk­lich­keit des gött­li­chen Geis­tes. Gewiss gibt es heu­te schon über­all auf der Welt Orte, an denen ein neu­es glo­ba­les Bewusst­sein her­vor­tritt – doch eben­so gewiss ist, dass es fun­da­men­ta­le bis fun­da­men­ta­lis­ti­sche Abwehr­re­fle­xe gibt, die sich jedem Auf­bruch ver­wei­gern. Wie in Fol­ge des meteo­ro­lo­gi­schen Kli­ma­wan­dels, so wird es auch im Zuge des ana­log zu ihm ver­lau­fen­den geis­ti­gen Kli­ma­wan­dels gewal­ti­ge Kämp­fe und Ver­wer­fun­gen geben. Des­we­gen müs­sen, um den bevor­ste­hen­de Her­aus­for­de­run­gen begeg­nen zu kön­nen, alle Kräf­te kon­zen­triert und gebün­delt wer­den: poli­ti­sche, öko­no­mi­sche, tech­ni­sche, kul­tu­rel­le, spi­ri­tu­el­le. Das ist nicht unmög­lich, aber es bleibt nicht mehr viel Zeit.

Wie lässt sich die Situa­ti­on der Gegen­wart beschrei­ben? Auf den Punkt gebracht könn­te man sagen: Die Welt ist aus dem Gleich­ge­wicht gera­ten, und zwar in jeder Hin­sicht. Das gilt vom Öko-Sys­tem genau­so wie vom Sozia­len Sys­tem, von der Welt­wirt­schaft genau­so wie von der Welt­po­li­tik – ja, es gilt von der Mehr­zahl all der sechs­ein­halb Mil­li­ar­den Indi­vi­du­en, die den Glo­bus bevöl­kern. Kurz: Die Welt braucht eine neue Balan­ce. Damit sie wie­der stimmt, muss sie neu gestimmt wer­den. Das ver­lo­re­ne Gleich­ge­wicht muss auf allen Ebe­nen wie­der her­ge­stellt wer­den. Aber wie soll das gehen?

Um ein Sys­tem in eine har­mo­ni­sche Balan­ce zu brin­gen, bedarf es eines ihm spe­zi­fi­schen inne­ren Maßes: eines Maßes, das ihm vor­gibt, wie die ein­zel­nen in ihm ver­sam­mel­ten Teil­aspek­te in ein stim­mi­ges Gan­zes ver­wo­ben wer­den. Und so ist es der Ver­lust des Bewusst­seins für die Not­wen­dig­keit eines inne­ren Maßes, das die Mensch­heits­kri­se der Gegen­wart her­vor­ge­ru- fen hat. Die Welt­wirt­schaft erscheint maß­los – und die Poli­tik ver­mes­sen. „Gibt es auf Erden ein Maß“, frag­te vor zwei­hun­dert Jah­ren Fried­rich Höl­der­lin. Die Ant­wort, die er sich gab, klingt heu­te plau­si­bler denn je: „Es gibt kei­nes.“ Das heißt nicht, dass es ein sol­ches Maß nicht geben könn­te. Im Gegen­teil: Es heißt, dass es ein sol­ches Maß gibt – nur eben nicht auf Erden, son­dern… – ja wo? Im Him­mel? Viel­leicht nicht im Him­mel, aber doch in einer ande­ren Dimen­si­on: in genau der Dimen­si­on, zu der hin sich zu ent­wi­ckeln der mensch­li­che Geist heu­te auf­ge­for­dert ist – zu der sich, das mensch­li­che Bewusst­sein heu­te öff­nen muss. Aber noch ein­mal: Wie soll das gehen?

Die Kri­se des anhe­ben­den 21. Jahr­hun­derts ist nicht zuletzt eine Kri­se der tech­nisch- ratio­na­len Ver­nunft. Wenn wir ehr­lich sind, müs­sen wir uns heu­te ein­ge­ste­hen, dass das in der west­li­chen Welt zum Ende des 18. Jahr­hun­derts begon­ne­ne Expe­ri­ment, die Welt mit den Instru­men­ten von Wis­sen­schaft, Tech­nik und Libe­ra­lis­mus zu einem dies­sei­ti­gen Eden zu machen, geschei­tert ist. Gekom­men ist nicht das Para­dies, son­dern der Kli­ma­wan­del. Dass er gekom­men ist, gibt zu erken­nen, wor­in das Ver­säum­nis die­ses Expe­ri­men­tes lag. Bedingt durch den phi­lo­so­phisch-theo­lo­gi­schen Dua­lis­mus von Leib und Geist, der sich zu Beginn der Neu­zeit in Euro­pa eta­blier­te, wur­de im Zuge einer Über­schät­zung der Ratio die irdi­sche Ver­wur­ze­lung des Lebens aus­ge­blen­det. Der Mensch woll­te und soll­te, wie der Phi­lo­soph René Decar­tes formulierte

„Meis­ter und Eigen­tü­mer der Natur“ sein. Er soll­te mit der Kraft sei­nes Geis­tes über die rein mate­ri­el­le-kör­per­li­che Welt herr­schen. Die­ses Den­ken ebne­te jener bei­spiel­lo­sen Aus­beu­tung der natür­li­chen Res­sour­cen den Weg, die uns heu­te in Gestalt des Kli­ma­wan­dels auf die Füße fällt. Und nicht nur das: Es öff­ne­te eben­so jenem heu­te domi­nan­ten kru­den Mate­ria­lis­mus die Tür, der sich von der fran­zö­si­schen Auf­klä­rung über den Marx­schen Sozia­lis­mus bis in die mo- der­ne Kon­sum­ge­sell­schaft hin in den Her­zen und Köp­fen der Men­schen eta­blier­te, nach­dem das Ver­trau­en in die Ver­nunft mehr und mehr zu schwin­den begann.

Die Fol­ge ist ein ein­di­men­sio­na­les Men­schen- und Welt­bild, das sich in allen Berei­chen des Lebens durch­ge­setzt hat. Kenn­zeich­nend dafür ist die Domi­nanz eines Den­kens und Han­delns, das sich mit einem Begriff der anti­ken Phi­lo­so­phie am bes­ten als „Mehr-haben-Wol­len“ cha­rak­te­ri­sie­ren lässt: Mehr Geld, mehr Macht, mehr Ener­gie, mehr Waren etc. Die­se Herr­schaft eines allein auf Quan­ti­täts­stei­ge­rung und Wachs­tum aus­ge­rich­te­ten Bewusst­seins stellt in der gegen­wär­ti­gen glo­ba­len Kri­se die größ­te Bedro­hung für die Mensch­heit dar. Immer deut­lich zeigt sich, dass es in kei­ner Wei­se den Her­aus­for­de­run­gen gewach­sen ist, die durch die Stich- wor­te Kli­ma­wan­del, Welt­hun­ger, Ter­ro­ris­mus etc. ange­deu­tet sind. Die­se Her­aus­for­de­run­gen sind viel zu kom­plex, als dass sie mit dem ein­di­men­sio­na­len Den­ken der Ver­gan­gen­heit bewäl­tigt wer­den könn­ten. Was folg­lich Not tut, ist ein Bewusst­seins­fort­schritt, der den Men­schen in den vie­len Facet­ten sei­nes Daseins mit­nimmt: nicht allein in den kogni­tiv-ratio­na­len, son­dern auch in den affek­tiv-emo­tio­na­len und trans­ra­tio­nal-spi­ri­tu­el­len. Es bedarf eines Bewusst­seins- wan­del, der die Qua­li­tät des Seins wie­der über die Quan­ti­tät des Habens stellt.

Ein drit­tes Mal: Wie soll das gehen? Nicht gehen wird es auf dem Weg der kon­ven­tio­nel- len Moral bzw. Moral­phi­lo­so­phie. Die Moral­phi­lo­so­phie von der frü­hen Neu­zeit über Kant bis hin zu Haber­mas ver­traut auf das mensch­li­che Ver­mö­gen, mit­tels Ver­nunft und Ratio nor­ma­ti­ve Maß­stä­be zu ermit­teln, an den sich unser Tun und Las­sen sinn­vol­ler Wei­se aus­rich­ten soll. Das Pro­blem dar­an ist, dass auf die­se Wei­se immer nur äuße­re Maß­stä­be in Gel­tung gesetzt wer­den kön­nen, die um- oder durch­zu­set­zen die Herr­schaft der Ver­nunft über alles Irdi­sche, Leib­li­che und Mate­ri­el­le erzwingt. Damit aber bleibt die Moral­phi­lo­so­phie in den Bah­nen eben jenes Be- wusst­seins, das die gan­ze Mise­re der gegen­wär­ti­gen Welt­kri­se erst mög­lich mach­te. Von der Moral­phi­lo­so­phie klas­si­schen Stils ist mit­hin nicht viel zu erwar­ten. Was Not tut, ist die Wie­der- ent­de­ckung eines inne­ren Maßes – eines Maß­sta­bes, der uns nicht nur ein­leuch­tet, son­dern gleich­sam in Fleisch und Blut gegen­wär­tig ist: eines Maß­sta­bes, der – weil er der Kom­ple­xi­tät unse­res eige­nen Lebens gemäß ist – dem Ver­hal­ten in einer plu­ra­len, ver­netz­ten, ganz­heit­lich ver­stan­de­nen, glo­ba­len Wirk­lich­keit ange­mes­sen ist. Die­ser Maß­stab hat nicht so sehr mit ratio­na­ler Ein­sich­tig­keit zu tun. Viel­mehr geht es bei ihm um so etwas wie Takt­ge­fühl und Gleich­ge- wichts­sinn. Das Maß, des­sen wir bedür­fen, will nicht allein gedacht, son­dern es will gefühlt und erspürt sein. Es bedarf eines Ant­lit­zes, in dem es anschau­lich wird und durch das es erfah­ren wer­den kann. Ein sol­ches Ant­litz trägt die Züge der Würde.

Wür­de ist maß­geb­lich. Dar­in besteht ihre Macht. Und ihre Macht ist umso grö­ßer, als Wür­de nie etwas ist, das allein nur gewusst oder gedacht wird. Im Gegen­teil: Wür­de ist etwas,

das sich unse­rem Füh­len und Spü­ren erschließt. Wür­de ist eine Erfah­rungs­qua­li­tät. Dar­auf hat Fried­rich Schil­ler in sei­ner Schrift Über Anmut und Wür­de mit Nach­druck hin­ge­wie­sen (Fried­rich Schil­ler: Über Anmut und Wür­de, S. 81) – auch wenn er das Phä­no­men der Wür­de dar­in anders inter­pre­tier­te, als ich es im Fol­gen­den tun wer- den. Wie dem auch sei. Wür­de ist jeden­falls des­halb ein trag­fä­hi­ges Kon­zept für das Maß, das wir brau­chen, um uns ange­sichts des bevor­ste­hen­den geis­tig-spi­ri­tu­el­len Kli­ma­wan­dels ange­mes­sen zu ver­hal­ten. Und sie ist es, weil sie eine kogni­ti­ve und eine sinn­li­che –in die­sem Sin­ne eine ganz­heit­li­che – Kom­po­nen­te hat, die für ein die pure Ratio­na­li­tät tran­szen­die­ren­des, fort- geschrit­te­nes Bewusst­sein cha­rak­te­ris­tisch sein wird.

Was aber heißt: Wür­de ist maß­geb­lich? Was ist es an der Wür­de, das ihr die­se Maß­geb­lich­keit ver­leiht? Die­se Fra­gen müs­sen wir beant­wor­ten, wenn wir für unse­re The­se wer­ben wol­len, die Macht der Wür­de habe das Zeug, uns bei der Bewäl­ti­gung der vor uns lie­gen­den Her­aus­for­de­run­gen maßgeblich zu sein. Wir brau­chen ein Ver­ständ­nis dafür, was Wür­de we- sent­lich ist und aus­macht. Und das ver­schafft uns am bes­ten ein klei­ner Exkurs in die Geschich­te der Philosophie.

2. Was ist Würde?

Von alters her eig­net dem Kon­zept Wür­de – latei­nisch digni­tas – eine dop­pel­te Bedeu- tung. Einer­seits bezeich­net es die her­vor­ge­ho­be­ne Stel­lung in einem sozia­len Kon­text – etwa die digni­tas eines pater fami­liae – ande­rer­seits eine Qua­li­tät, die dem Men­schen als sol­chem eig­net. In der stoi­schen Phi­lo­so­phie eines Cice­ro etwa sind die bei­den Aspek­te dar­in zusam­men­ge- kop­pelt, dass die dem Men­schen als Men­schen eig­nen­de Wür­de in der­je­ni­gen sei­ner Eigen- schaf­ten grün­det, die im Sys­tem der mensch­li­chen Lebens­aspek­te eine her­vor­ge­ho­be­ne Stel­lung ein­nimmt: die Ver­nunft. Und eben des­halb ver­dient die Ver­nunft die aus­drück­lichs­te Wür- digung. Sie ist gleich­sam der pater fami­liae der Fami­lie mensch­li­cher Lebens­aspek­te. Wie sich die Wür­de der Fami­lie in ihrem Ober­haupt ver­dich­tet und mani­fes­tiert, so ver­dich­tet und mani­fes­tiert sich die Wür­de des Men­schen in sei­ner Ver­nunft. Soweit die Stoiker.

Unter dem Ein­fluss der christ­li­chen Reli­gi­on in Spät­an­ti­ke und Mit­tel­al­ter trat die­ses Kon­zept der Wür­de dann vor­über­ge­hend zurück. Erst im Zeit­al­ter des Ratio­na­lis­mus kam es bei Den­kern wie Pas­cal und Pufen­dorf zu neu­en Ehren. Nun ent­fal­te­te es sei­ne bis heu­te spür­ba­re Wir­kung: über die Auf­klä­rungs­phi­lo­so­phie bis in die ame­ri­ka­ni­sche Erklä­rung der Men­schen­rech­te von 1776 und in das Grund­ge­setz der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, das die Unver­letz­bar­keit und Unver­äu­ßer­lich­keit der Wür­de eines jeden Men­schen in sei­ner Prä­am­bel festschreibt. 

Dane­ben aber hat sich bis in unse­re Tage hin­ein eine ande­re Begrün­dungs­tra­di­ti­on für die unver­äu­ßer­li­che Men­schen­wür­de gehal­ten. Sie hat ihre Wur­zeln in der Tra­di­ti­on des bib­li- schen Den­kens und wur­de ent­spre­chend durch die christ­li­che Theo­lo­gie pro­pa­giert. Mit gro­ßem Erfolg, denn bis heu­te steht sie im Hin­ter­grund offi­zi­el­ler kirch­li­cher Ver­laut­ba­run­gen – etwa sol­cher des Rats­vor­sit­zen­den der Evan­ge­li­schen Kir­che in Deutsch­land. Tat­säch­lich sind sich Wolf­gang Huber und Tho­mas von Aquin näm­lich dar­in einig, dass die Wür­de des Men­schen in sei­ner Got­tes­eben­bild­lich­keit grün­det, wie sie vom bibli­schen Schöp­fungs­be­richt in Gene­sis 1,27 behaup­tet wird. Als Got­tes Eben­bild eig­ne dem­nach dem Mensch als sol­chem Wür­de – und als die Kro­ne der Schöp­fung gebührt es ihm, von allen ande­ren Wesen gewür­digt zu wer­den. So gese­hen ist er der pater fami­liae der Schöp­fung, in dem sich die Wür­de des Schöp­fers abbil­det und mani­fes­tiert. Die­se theo­lo­gi­sche Begrün­dung der Men­schen­wür­de ist signi­fi­kant anders als die phi­lo­so­phi­sche. Sie steht ihr aber nicht ent­ge­gen. So gese­hen kann man Wolf­gang Huber zustim­men, wenn er sagt, eine der „Stär­ken des Men­schen­wür­de­be­griffs“ lie­ge „gera­de in sei­ner uni­ver­sa­len Begrün­dungs­of­fen­heit für unter­schied­li­che welt­an­schau­li­che Zugän­ge.“ Und er hat Recht, wenn er anfügt: „Des­halb braucht eine christ­li­che Inter­pre­ta­ti­on nicht zuück­ge­hal­ten werden.“

Egal ob nun theo­lo­gisch durch die Eben­bild­lich­keit Got­tes begrün­det oder phi­lo­so­phisch durch den Pri­mat der Ver­nunft­tä­tig­keit: In der Tra­di­ti­on des west­li­chen Den­kens ist Wür­de im- mer ein Kon­zept gewe­sen, das dem Men­schen allein vor­be­hal­ten ist. Von einer Wür­de der Tie­re oder einer Wür­de der Natur konn­te weder auf theo­lo­gi­scher noch auf phi­lo­so­phi­scher Basis sinn­voll gespro­chen wer­den. Es ist aber zu beden­ken, ob dadurch nicht die Macht der Wür­de ohne Not ein­ge­schränkt wor­den ist – und ob es nicht erfor­der­lich ist, die Reich­wei­te der Wür­de zu erwei­tern, wenn es uns dar­um zu tun ist, ihre Macht für die anste­hen­den Mensch­heits­auf­ga- ben frucht­bar zu machen. Wäre es mög­lich, auch der beleb­ten Natur Wür­de zuzu­schrei­ben, wür­de es nicht dem Men­schen allein über­las­sen blei­ben, uns ein Gefühl für das­je­ni­ge zu geben, was unser aller Leben Maß und Balan­ce ver­leiht. Fra­gen wir also: Wie weit reicht das tra­di­tio­nel­le Kon­zept der Wür­de wirk­lich? Um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, müs­sen wir tie­fer in die Geis­tes­ge­schich­te ein­tau­chen, um von dort ein noch fei­ne­res Ver­ständ­nis der Wür­de zu gewinnen.

Die­ser Tauch­gang wird uns zu den drei bedeu­tends­ten phi­lo­so­phi­schen Refle­xio­nen über die Wür­de füh­ren: denen von Imma­nu­el Kant, Fried­rich Schil­ler und Pico del­la Miradola.

2.1. Imma­nu­el Kant

Als Phi­lo­soph der Auf­klä­rung steht Imma­nu­el Kant ganz unter dem Ein­fluss des Ratio­na- lis­mus und damit in der Tra­di­ti­on einer Deu­tung der Men­schen­wür­de, die sie in der mensch­li­chen Ver­nunft ver­wur­zelt sieht. Was Kant aller­dings weit über alle ande­ren Theo­re­ti­ker der Wür­de erhebt, ist das Niveau sei­ner Begrün­dung. Kant begnügt sich näm­lich nicht damit, ein- fach­hin den Pri­mat der Ver­nunft vor allen ande­ren Aspek­ten mensch­li­chen Lebens zu behaup- ten. Viel­mehr begrün­det er ihn durch eine kri­ti­sche und tief­schür­fen­de Ana­ly­se der Ver­nunft selbst. Die ein­schlä­gi­gen Pas­sa­gen für unser The­ma fin­den sich in der Grund­le­gung zu einer Me- taphy­sik der Sit­ten von 1785. In die­ser berühmt gewor­de­ne Schrift ent­fal­tet Kant die Grund­la­gen sei­ner Moral­phi­lo­so­phie und ent­wi­ckelt aus ihnen sei­nen kate­go­ri­schen Impe­ra­tiv als das Grund­prin­zip aller Sitt­lich­keit und Ethik.

Es wür­de zu weit füh­ren, hier nun in der gebo­te­nen Aus­führ­lich­keit die Kan­ti­sche Moral- phi­lo­so­phie dar­zu­stel­len. Nur so viel sei skiz­ziert, wie es für das Ver­ständ­nis von Kants Kon­zept der Wür­de erfor­der­lich ist: Im Hin­ter­grund die­ses Kon­zep­tes steht eine Gedan­ken­fi­gur, die man Kants anthro­po­lo­gi­schen Dua­lis­mus nen­nen könn­te. Als Kind des Ratio­na­lis­mus unter­schei­det er zwei Aspek­te des Mensch­seins: hier den Men­schen als Ver­nunft­we­sen bezie­hungs­wei­se homo noo­u­me­non, da den Men­schen als Sin­nes­we­sen bezie­hungs­wei­se homo phae­no­me­non. Der Aspekt des homo phae­no­me­non umfasst alles Kör­per­li­che, Mate­ri­el­le, Affek­ti­ve – er umfasst all das, wor­in der Mensch, wie jedes ande­re Wesen und Phä­no­men der phy­si­ka­li­schen Welt auch, not­wen­di­gen Natur­ge­set­zen unter­wor­fen ist, die ihn in sei­nem Ver­hal­ten unaus­weich­lich bestim­men. Dane­ben aber ist der Mensch auch homo noo­u­me­non. Er ist dies, sofern er kraft sei­ner Ver­nunft über ein Ver­mö­gen ver­fügt, Hand­lun­gen zu ver­rich­ten, die aus eige­nem frei­en Ent- schluss her­vor­ge­hen und nicht dem mecha­ni­schen Wir­kungs­zu­sam­men­hang der Natur­ge­set­ze unter­lie­gen. Die Natur­ge­set­ze las­sen sich wis­sen­schaft­lich ermit­teln und berech­nen. Von der Frei­heit kann man das nicht sagen. Sie ist der Bere­chen­bar­keit ent­zo­gen und kann daher auch nicht wis­sen­schaft­lich bewie­sen wer­den. Aber– und das war für Kant außer­or­dent­lich wich­tig – es liegt doch im Wesen der Ver­nunft selbst, Frei­heit wider­spruchs­los den­ken zu kön­nen. Denn auf die­ser Grund­la­ge steht es der Ver­nunft – und dem Phi­lo­so­phen Kant – zu, sie – die Frei­heit – als uner­schüt­ter­li­ches Fun­da­ment der Moral­phi­lo­so­phie behaup­ten zu dür­fen. Das heißt: Die Tat­sa­che, dass wir Men­schen Ver­nunft­we­sen sind, ver­bürgt die Mög­lich­keit, das eige­ne Verhal- ten frei und auto­nom zu gestal­ten. Allein: Die­se Frei­heit ist kei­ne Will­kür. Auch sie unter­liegt einer, wie Kant sagt, Legis­la­ti­on. Sie unter­liegt einer Gesetz­ge­bung. Aber dies ist nicht die Legis­la­ti­on der wis­sen­schaft­lich ermit­tel­ba­ren Natur­ge­set­ze, son­dern die Legis­la­ti­on eines Sit­ten­ge­set­zes, das die Ver­nunft nicht durch empi­ri­sche Beob­ach­tung, son­dern nur durch die kri­ti­sche Anlay­se ihrer selbst ermit­teln kann. Für die Moral­phi­lo­so­phie stellt sich damit die Frage:

„Ist es ein not­wen­di­ges Gesetz für alle ver­nünf­ti­gen Wesen, ihre Hand­lun­gen jeder­zeit nach sol­chen Maxi­men zu beur­tei­len, von denen sie selbst wol­len kön­nen, dass sie zu all­ge­mei­nen Ge- set­zen die­nen sol­len? Wenn es ein sol­ches ist, so muss es (völ­lig a prio­ri) schon mit dem Begrif­fe des Wil­lens eines ver­nünf­ti­gen Wesens über­haupt ver­bun­den sein.“ (Kant, Grund­le­gung zur Meta­phy­sik der Sit­ten, BA 63).

Damit will Kant sagen: Das Sit­ten­ge­setz muss aus der frei­en Ver­nünf­tig­keit des Men­schen selbst her­aus ent­wi­ckelt wer­den. Es muss dem mensch­li­chen Wol­len Hand­lungs­an­wei­sun­gen bezie- hungs­wei­se Maxi­men an die Hand geben, die kei­ne ande­re Begrün­dung haben, als dass sie der Ver­nunft unmit­tel­bar ein­sich­tig sind. Das heißt: Mit ihnen darf das Han­deln kei­nen ande­ren Zweck ver­fol­gen als den, der Maß­ga­be der Ver­nunft zu fol­gen. Da – und dies ist nun für Kants Kon­zept Wür­de der ent­schei­den­de Gedan­ke – der mensch­li­che Wil­len immer auf Zwe­cke und Zie­le aus­ge­rich­tet ist, muss für das Sit­ten­ge­setz gel­ten, dass es den Men­schen zu nichts ande­rem ver­pflich­tet als zu einem Han­deln gemäß sei­ner Ver­nunft und Frei­heit. Ver­nunft und Frei- heit sind der ein­zi­ge mög­li­che Bewe­gungs­grund für mora­li­sches Han­deln. Sie allein sind das, was Kant „einen Zweck an sich nennt“ – weil wir, wenn wir unse­rem eige­nen Wesen gemäß leben wol­len, nichts erstre­ben könn­ten, was über Frei­heit und Ver­nunft hin­aus­geht. Des­we­gen kann Kant sagen:

„Der Mensch, und über­haupt jedes ver­nünf­ti­ge Wesen, exis­tiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mit­tel zum belie­bi­gen Gebrau­che für die­sen oder jenen Wil­len, son­dern muss in allen sei­nen, sowohl auf sich selbst als auch auf ande­re ver­nünf­ti­ge Wesen gerich­te­ten Hand­lun­gen jeder­zeit zugleich als Zweck betrach­tet wer­den.“ (Kant, GMS, BA 64f).

Als frei­es und ver­nünf­ti­ges Wesen ist der Mensch „Zweck an sich“. Dem gilt es zu ent­spre­chend. Das ist der Kern­ge­dan­ke von Kants gan­zer Moral­phi­lo­so­phie. Und aus ihm her­aus lei­tet er als For­mu­lie­rung des Sit­ten­ge­set­zes und als des­sen höchs­te Mani­fes­ta­ti­on den berühm­ten Kate­go- rische Impe­ra­tiv her, der da lautet:

„Hand­le so, dass du die Mensch­heit, sowohl in dei­ner Per­son, als in der Per­son eines jeden andern, jeder­zeit zugleich als Zweck, nie­mals bloß all Mit­tel brau­chest.“ (Kant, GMS, BA 66f).

Als frei­es Ver­nunft­we­sen ist der Mensch auf ein Sit­ten­ge­setz ver­pflich­tet, dass kei­ne ande­re Begrün­dung kennt, als sein eige­nes Wesen – sei­ne eige­ne Frei­heit und Ver­nünf­tig­keit. Kei­nem ande­ren Zweck ist er in sei­nem Tun und Las­sen unter­wor­fen, als dem, in Frei­heit und Ver­nunft sei­nem eige­nen Mensch­sein zu genü­gen. Und eben dar­in, so Kant, liegt sei­ne Wür­de:

„Die Ver­nunft bezieht […] jede Maxi­me des Wil­lens als all­ge­mein gesetz­ge­bend auf jeden an- deren Wil­len, und auch auf jede Hand­lung gegen sich selbst, und dies zwar nicht um irgend eines andern prak­ti­schen Bewe­gungs­grun­des oder künf­ti­gen Vor­teils wil­len, son­dern aus der Idee der Wür­de eines ver­nünf­ti­gen Wesens, das kei­nem Geset­ze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt. [Denn] was sich auf die all­ge­mei­nen mensch­li­chen Nei­gun­gen und Bedürf- nis­se bezieht, hat einen Markt­preis; […] das aber, was die Bedin­gung aus­macht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen rela­ti­ven Wert, d.i. einen Preis, son- dern einen innern Wert, d.i. Wür­de.“ (Kant, GMS, BA 77).

Damit ist es her­aus: Für Kant grün­det die Wür­de dar­in, dass der Mensch – als frei­er, al- lein dem ver­nünf­ti­gen Sit­ten­ge­setz ver­pflich­te­ter homo noo­u­me­non – ein Zweck an sich ist. Und die Wür­de des Men­schen wird ent­spre­chend über­all da geach­tet, wo die­sem Umstand Rech- nung getra­gen wird: wo der Mensch nicht ver­zweckt, instru­men­ta­li­siert, als Mit­tel gebraucht wird. Dies zu unter­las­sen gebie­tet der Kate­go­ri­sche Impe­ra­tiv, indem er uns Men­schen dar­auf ver­pflich­tet, die eige­ne eben­so wie die Wür­de der ande­ren zu achten.

So gran­di­os die­se Begrün­dung der Wür­de auch ist, so erscheint es doch pro­ble­ma­tisch, dass Kant sie so eng an die Ver­nünf­tig­keit des Men­schen bin­det. Auf die­se Wei­se schei­nen alle nicht-ratio­na­len Kom­po­nen­ten des Men­schen sei­ner nach­ge­ra­de unwür­dig zu sein. Die­ses Pro­blem tritt noch deut­li­cher zuta­ge, wenn wir uns im nächs­ten Schritt Schil­lers Ver­ständ­nis der Wür­de zuwen­den. Zuvor aber soll fest­ge­hal­ten wer­den, wor­in der blei­ben­de und für unse­re Fra­ge­stel­lung unge­bro­che­ne Wert der Kan­ti­schen Kon­zep­ti­on der Wür­de liegt. Er liegt dar­in, dass Kant die abso­lu­te Maß­geb­lich­keit der Wür­de her­aus­ge­ar­bei­tet hat. Die Macht der Wür­de besteht ihm zufol­ge genau dar­in, dass sie Aus­druck des Wer­tes des Men­schen an sich selbst ist: dass er kei­nem ande­ren Maß unter­liegt, als dem­je­ni­gen, das in sei­nem eige­nen Wesen oder sei­ner eige­nen Natur begrün­det ist. Es ist genau die­se Maß­geb­lich­keit des mensch­li­chen We- sens, die es heu­te neu zu ent­de­cken gilt, wenn denn die Wür­de des Men­schen in einer maß­los gewor­de­nen Welt als Maß zur Gel­tung gebracht wer­den soll. Ob aller­dings das Wesen des Men- schen allein in sei­ner Ver­nunft liegt und die­se damit zum Maß aller Din­ge erho­ben wer­den kann, ist ange­sichts des ein­gangs behaup­te­ten Schei­terns der wis­sen­schaft­lich-tech­ni­schen Welt­be­herr­schung fraglich. 

2.2 Fried­rich Schiller

„Beherr­schung der Trie­be durch die mora­li­sche Kraft ist Geis­tes­frei­heit, und Wür­de heißt ihr Aus­druck in der Erscheinung.“(Friedrich Schil­ler: Über Anmut und Wür­de, in: Ders., Über das Schö­ne und die Kunst. Schrif­ten zur Ästhe­tik, S. 81)

In die­sem Satz ist ver­dich­tet, was Schil­ler zum The­ma Wür­de zu sagen hat. Zwei­er­lei fällt dar­an auf: Zum einen ist erkenn­bar, dass Schil­ler in sei­nem Ver­ständ­nis der Wür­de ganz unter dem Ein­fluss Kants steht. Die Wür­de grün­det für ihn ein­zig und allein in der Moral: in einem au- tono­men, frei­en Wil­len, der sich in sei­nem Tun und Las­sen ganz vom Sit­ten­ge­setz und des­sen kate­go­ri­schem Impe­ra­tiv in die Pflicht neh­men lässt – einem Wil­len, der sich jeder Deter­mi­na­ti- on durch die Sin­ne, die Affek­te oder den ihnen ent­spre­chen­den Zwe­cken ent­zieht. Wür­de wird damit zur Qua­li­tät eines stren­gen Regi­men­tes der Ver­nunft im Rei­che der mensch­li­chen See­le. Der Ver­nunft – als einem see­li­schen pater fami­liae – allein eig­net digni­tas; und dies je mehr, des­to deut­li­cher und auto­ri­tä­rer sie auf­tritt – wes­halb Schil­ler dann auch ihren „höchs­ten Grad“ in der „Majes­tät“ erkennt (Schil­ler, a.a.O., S. 91):

„Bei der Wür­de führt sich der Geist in dem Kör­per als Herr­scher auf, denn hier hat er sei­ne Selbst­stän­dig­keit gegen den gebie­te­ri­schen Trieb zu behaup­ten, der ohne ihn zu Hand­lun­gen schrei­tet und sich sei­nem Joch gern ent­zie­hen möchte.“(Schiller, a.a.O., S. 83)

In die­sen Wor­ten wird eine Ten­denz erkenn­bar, die wir schon bei Kants Kon­zept der Wür­de ver­mu­te­ten. Hier wird sie aus­drück­lich: Schil­ler wie Kant fei­ern die Wür­de als maß­geb­li­che Instanz mensch­li­cher Moral. Aber sie tun dies um den Preis eines ganz­heit­li­chen, den Men­schen auch in sei­ner Leib­lich­keit und Sinn­lich­keit ach­ten­den Men­schen­bil­des. Die Wür­de gerät ihnen zur Qua­li­tät einer Gewalt, mit der sich die mensch­li­che Ver­nunft gegen die mensch­li­che Sinn­lich­keit durch­setzt. In Schil­lers Wor­ten: Die Wür­de ist „Aus­druck des Wider­stan­des […], den der selb­stän­di­ge Geist dem Natur­trie­be leis­tet“ (Schil­ler, a.a.O., S. 84)

Wich­tig ist dabei das Stich­wort „Aus­druck“. Es führt uns auf den zwei­ten signi­fi­kan­ten Aspekt des Schil­ler­schen Kon­zep­tes der Wür­de. Denn wenn wir auch sei­ner Eng­füh­rung von Wür­de und Ver­nunft­herr­schaft nicht fol­gen kön­nen, so lässt sich aus ihm doch ler­nen, woher die Macht der Wür­de kommt. Oder anders gesagt: Wenn uns auch die Aus­füh­run­gen Kants und Schil­lers zum Wesen der Wür­de nicht über­zeu­gen, so kön­nen wir ihnen doch wich­ti­ge Ein­sich­ten über die Wir­kung der Wür­de ent­neh­men – die Wir­kung, die dar­in besteht, mäch­tig zu sein. 

Wie gesagt: Das ent­schei­den­de Stich­wort heißt „Aus­druck“. Wür­de, so Schil­ler, ist „Aus­druck “ des geis­ti­gen Wider­stands bezie­hungs­wei­se der „mora­li­schen Kraft“ und „Geist­frei­heit“ „in der Erschei­nung“. Das bedeu­tet: Wür­de ist für Schil­ler ein ästhe­ti­scher Begriff. Will sagen: Wür­de ist die Qua­li­tät einer Erschei­nung. Wür­de ist die Qua­li­tät einer Erfah­rung. Und als sol­che spricht sie uns nicht oder nicht nur auf kogni­ti­ve Wei­se an. Als Erfah­rungs­qua­li­tät ist sie etwas, das erfühlt und erspürt wer­den muss: etwas, das uns in Herz und Bauch berührt und von genau dort aus sei­ne maß­geb­li­che Macht ent­fal­ten kann. Wür­de ist mäch­tig, weil sie unser inne­res Maß berührt – zumin­dest dann, wenn wir den Sinn für Wür­de aus­ge­prägt haben. Das kann man sich ein­fach klar machen. Über­le­gen Sie nur: Von jeman­des Wür­de kann und muss man nie­man­den über­zeu­gen: man muss ledig­lich die Sen­si­bi­li­tät für sie schär­fen. Die Macht der Wür­de liegt in die­ser ihrer ästhe­ti­schen oder sinn­li­chen Kraft.

Allein, es bleibt die Fra­ge: Was ist es denn, das mit der Macht der Wür­de zur Erschei­nung kommt? Ist es, wie Schil­ler und Kant mei­nen, die mora­li­sche Kraft, die Geist­frei­heit, der dem Sit­ten­ge­setz ver­pflich­te­te Wil­len in sei­nem Wider­stand gegen die Trie­be? Wäre es nur das, wür- de sich das Kon­zept Wür­de bei aller sinn­li­che Potenz nicht als maß­geb­li­ches Kri­te­ri­um für das glo­ba­le Mit­ein­an­der anbie­ten. Viel­mehr wür­de es den im Kli­ma­wan­del in sei­ner gan­zen Bedroh­lich­keit mani­fest wer­den­den Dua­lis­mus von Ver­nunft und Kör­per fort­schrei­ben. Die irdi­sche Ver­wur­ze­lung des Lebens blie­be aus­ge­blen­det und die Zer­stö­rung der Erde gin­ge gera­de so wei­ter. Was Not tut ist ein umfas­sen­de­res, ganz­heit­li­che­res Ver­ständ­nis des Men­schen und sei­ner Wür­de – ein Ver­ständ­nis der Wür­de, das die Maß­geb­lich­keit des Men­schen als eines Wer­tes an sich nicht in der Herr­schaft der Ver­nunft über Leib und Sin­ne begrün­det sieht, son­dern in der har­mo­ni­schen und stim­mi­gen Inte­gra­ti­on aller Aspek­te des Lebens. Ein sol­ches Kon­zept der Wür­de muss nicht erfun­den wer­den. Wir fin­den es in einem ande­ren der klas­si­schen Tex­te zu unse­rem The­ma: in Gio­van­ni Pico del­la Miran­do­las Trak­tat De Homi­nis Digni­ta­te (Über die Wür­de des Men­schen) von 1485.

2.3 Gio­van­ni Pico del­la Mirandola

Gio­van­ni Pico del­la Miran­do­la ist eine der erstaun­lichs­ten intel­lek­tu­el­len Figu­ren der ita- lie­ni­schen Renais­sance. Als enger Freund von Mar­si­lio Fici­no, dem Begrün­der der flo­ren­ti­schen Aka­de­mie, ver­kehr­te er in sei­nem kur­zen Leben (1463–1494) mit den gro­ßen Geis­tern sei­ner Zeit. Er wur­de exkom­mu­ni­ziert, ein­ge­ker­kert und wie­der in die Kir­che auf­ge­nom­men. Sein be- rühm­tes­tes Werk ist sei­ne Schrift über die „Wür­de des Men­schen“ – ein The­ma, dem sich sei- ner­zeit fast alle Renais­sance-Huma­nis­ten wid­me­ten, deren Tex­te aber meist in Ver­ges­sen­heit gerie­ten. Mit Picos Werk ist das anders. Zu Recht. Denn anders als sei­ne Weg­ge­fähr­ten, die sich bei ihrem Refle­xio­nen über die Wür­de ganz in den Fuß­spu­ren Cice­ros beweg­ten, wähl­te Pico einen ande­ren, durch die Phi­lo­so­phie Pla­tons moti­vier­ten Weg. Nicht die Ver­nunft erscheint ihm als Garant der mensch­li­chen Wür­de, son­dern die Krea­ti­vi­tät. Die­sen Gedan­ken ent­wi­ckelt er aus einer küh­nen eige­nen Les­art der Schöpfungsgeschichte:

„End­lich beschloss der höchs­te Künst­ler (Gott), dass der, dem er nichts eige­nes geben konn­te, Anteil habe an allem, was die ein­zel­nen [Wesen] jeweils für sich gehabt hat­ten. Also war er zu- frie­den mit dem Men­schen als einem Geschöpf von unbe­stimm­ter Gestalt, stell­te ihn in die Mit- te der Welt und sprach ihn so an: „Wir haben dir kei­nen fes­ten Wohn­sitz gege­ben, Adam, kein eige­nes Aus­se­hen noch irgend­ei­ne beson­de­re Gabe, damit du den Wohn­sitz, das Aus­se­hen und die Gaben, die du dir selbst aus­er­siehst, ent­spre­chend dei­nem Wunsch und Ent­schluss habest und besit­zest. […] Weder haben wir dich himm­lisch noch irdisch, weder sterb­lich noch un- sterb­lich geschaf­fen, damit du wie dein eig­ner, in Ehre frei ent­schei­den­der, schöp­fe­ri­scher Bild- hau­er dich selbst zu der Gestalt aus­formst, die du bevor­zugst.”  (Gio­van­ni Pico del­la Miran­do­la: De homi­nis dignitate/ Über die Wür­de des Men­schen, übers. Von Nor­bert Baum­gar­ten, hg. V. August Buch, lt.-dt., Ham­burg 1990, S. 5f.)

Fol­gen wir Pico, dann ist es der Krea­ti­vi­tät des Men­schen über­ant­wor­tet, etwas aus sei- nem Leben zu machen. Und in die­ser Fähig­keit wur­zelt sei­ne Wür­de. Sie wur­zelt nicht dar­in, dass ein Aspekt sei­ner Lebens­wirk­lich­keit – die Ver­nunft – die ande­ren Aspek­te beherrscht.

Son­dern sie wur­zelt dar­in, dass er über die Krea­ti­vi­tät ver­fügt, alle Aspek­te sei­nes Lebens so aus­zu­for­men, dass sie ein in sich stim­mi­ges Gan­zes bil­den. „Im Men­schen“, sagt Pico, „sind bei sei­ner Geburt von Gott­va­ter vie­ler­lei Samen und Kei­me für jede Lebens­form ange­legt; wel­che ein jeder hegt und pflegt, die wer­den her­an­wach­sen und ihre Früch­te in ihm tra­gen“ (Pico del­la Miran­do­la, a.a.O., S. 7). Die­se „Hege und Pfle­ge“ aber ist ganz­heit­lich ange­legt. Unse­rer Wür­de ent­spre­chen wird Men­schen nach Pico am bes­ten dann, wenn wird die­se „Samen und Kei­me“ in eine stim­mi­ge Har­mo­nie des Lebens fügen. In sei­ner eigen­tüm­lich pathe­ti­schen Renais­sance-Spra­che bringt Pico dies wie folgt auf den Begriff:

„Wenn die Kräf­te der Lei­den­schaf­ten […] durch die nöti­ge sym­me­tri­sche Anord­nung so auf den Rhyth­mus (der See­le) aus­ge­rich­tet sind, dass sie mit­ein­an­der in siche­rem Ein­klang har­mo­nie­ren, und sich die Ver­nunft […] beim Vor­an­schrei­ten im Takt bewegt, dann wer­den wir, durch die Ver- zückung der Musen erregt, die himm­li­sche Har­mo­nie förm­lich ein­sau­gen.“ (Pico del­la Miran­do­la, a.a.O., S. 25). 

In dem Maße aber, in dem wir die „himm­li­sche Har­mo­nie“ ein­sau­gen, ent­spre­chen wir unse­rer Wür­de als „Bild­hau­er“ oder – im Sin­ne die­ses Bil­des bes­ser – als Kom­po­nis­ten unse­res eige­nen Lebens. Indem wir das Leben in eine stim­mi­ge Sym­pho­nie ver­wan­deln, ver­lei­hen wir unse­rer Got­tes­eben­bild­lich­keit als Schöp­fer eines har­mo­ni­schen Lebens Aus­druck. Und Wür­de ist im Sin­ne Picos ent­spre­chend nicht wie bei Schil­ler der Aus­druck der Geis­tes­kraft in der Er- schei­nung, son­dern der sin­nen­fäl­li­ge Aus­druck mensch­li­cher Krea­ti­vi­tät in einem in sich stim­mi­gen, har­mo­ni­schen Leben. Als sol­cher aber ist sie, ganz im Sin­ne Kants, ein Wert an sich. Auch für Pico bemisst sich der Wert der Wür­de nach dem mensch­li­chen Leben selbst – nun aber nicht nach sei­nem Ver­mö­gen, in sich ein Regi­ment der Ver­nunft über Leib und Sin­ne zu errich­ten, son­dern nach sei­nem Ver­mö­gen, sich selbst zu einer stim­mi­gen Sym­pho­nie fügen, in der Leib, Sin­ne und Geist har­mo­nisch zusam­men­spie­len. In die­sem krea­ti­ven Ver­mö­gen grün­det die mensch­li­che Wür­de. Und ihre Macht resul­tiert dar­aus, dass sie uns in ihrem Erschei­nen sin­nen­fäl­lig dazu auf­for­dert, unser Leben eben­so wie das Leben auf die­sem Glo­bus im Gan­zen in einem umfas­sen­den Sin­ne in ein har­mo­ni­sches Gleich­ge­wicht zu bringen

3. Die Macht der Würde

Fol­gen wir Pico del­la Miran­do­la, dann eig­net sich die Wür­de des­halb als Maß­stab für eine nach­hal­ti­ge, gerech­te und lebens­dien­li­che Neu­ord­nung der Welt, weil in ihr das inne­re Maß des Lebens sin­nen­fäl­lig wird. An der Wür­de Maß zu neh­men, heißt: An dem inne­ren Maß­stab allen Lebens Maß zu neh­men: an dem Maß­stab, der dar­in besteht, dass alles Leben dar­auf ange- legt ist, ein stim­mi­ges und har­mo­ni­sches Gleich­ge­wicht sei­ner Aspek­te aus­zu­bil­den. Im Bereich der Medi­zin nen­nen wir die­ses Gleich­ge­wicht „Gesund­heit“, im Bereich der Kunst nen­nen wir es „Schön­heit“, im Bereich der Öko­lo­gie „Nach­hal­tig­keit“, im Bereich der Poli­tik „Gerech­tig­keit“ oder „Frie­den“– und als Erfah­rungs­qua­li­tät in der Erschei­nung eines Lebe­we­sens nen­nen wir es „Wür­de“.

So ver­stan­den ist die Wür­de aber nicht das Mono­pol des Men­schen. Wenn­gleich sie an kei­nem ande­ren Lebe­we­sen so sin­nen­fäl­lig auf­tritt wie an ihm, kann man im frei­en Anschluss an Pico del­la Miran­do­la durch­aus auch von einer Wür­de der Natur reden. Denn wo immer ein leben­di­ges Wesen – ob Mensch, Tier, Gemein­we­sen oder Kli­ma – in sich das inne­re Maß des Lebens zum Aus­druck bringt, ist sei­ne Erschei­nung dar­in maß­geb­lich. Wo die­se Maß­geb­lich­keit gespürt und emp­fun­den wird, sagen wir: Es hat Wür­de. Oder: Es ist wür­de­voll. Und wenn wir die­se Maß­geb­lich­keit wirk­lich spü­ren und ver­in­ner­li­chen, wer­den wir alles dar­an set­zen, unser eige­nes eben­so wie unser gesell­schaft­li­ches Leben nach die­ser Maß­ga­be zu gestal­ten: sei es im Blick auf Frie­den, Gerech­tig­keit, Nach­hal­tig­keit oder wie immer wir die Erschei­nungs­for­men des Lebens im Gleich­ge­wicht nen­nen wollen.

Das krea­ti­ve Ver­mö­gen, das eige­ne Leben nach Maß­ga­be sei­nes inne­ren Maßes zu inne­rem Ein­klang und Har­mo­nie zu fügen, eig­net jedem Men­schen. Des­we­gen kön­nen wir auch im Sin­ne des hier ent­wi­ckel­ten Ver­ständ­nis­ses der Wür­de sagen, dass sie jedem Men­schen unver- äußer­lich ist. Eben­so wird man sagen müs­sen, dass sie je nach dem Grad, in dem es einem Men- schen gelingt, mit sich und sei­ner Umwelt im Ein­klang zu sein, stär­ker oder schwä­cher in Er- schei­nung tritt. Wo das inne­re Maß am deut­lichs­ten her­vor­tritt, wer­den wir – wie es dem Sprach­ge­brauch ent­spricht – einem Men­schen aus­drück­lich Wür­de zuspre­chen. Das wird uns aber nicht dar­an hin­dern, sie genau­so als unver­äu­ßer­li­che Qua­li­tät eines jeden ande­ren anzu­er­ken­nen – weil auch jeder ande­re in sich das Ver­mö­gen besitzt, sein Leben nach Maß­ga­be sei­nes inne­res Maßes in Har­mo­nie und Balan­ce zu führen.

Damit nun das Bewusst­sein für die unver­äu­ßer­li­che Wür­de eines jeden Men­schen – und dar­über hin­aus eines jeden leben­di­gen und beseel­ten Wesens – wächst, sind wir beru­fen, unse- re Wür­de immer aufs Neue Gestalt zu ver­lei­hen. Dies kann gesche­hen in einer dem eige­nen Dasein gewid­me­ten Lebens­kunst, es kann gesche­hen in den Wer­ken der schö­nen Kunst, es kann gesche­hen in einem nach­hal­ti­gen und fai­ren Wirt­schaf­ten, es kann gesche­hen in einer gerech- ten Welt­po­li­tik. Es wird aber nur gesche­hen, wenn es uns gelingt, ein neu­es Bewusst­sein aus­zu­prä­gen, das Maß nimmt an der Schön­heit und Wür­de des in sich stim­mi­gen krea­ti­ven Lebens.

Wür­de ist maß­geb­lich. Und Wür­de ist mäch­tig. Macht ist ein Poten­zi­al, das genutzt wer­den will. Unse­re maß­lo­se und ver­mes­se­ne Welt braucht die­ses Poten­zi­al. Dar­um ist es an der Zeit, die Macht der Wür­de frei zu set­zen. Denn auf Erden gibt es kein bes­se­res Maß als sie.