Die Macht der Würde. Von der Maßgeblichkeit des Lebens

von Christoph Quarch (Vortrag vom 3. März 2008 – Reinheim)

  1. Einleitung

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich die Menschheit in einer dramatischen Krise. Sinnenfälliger Ausdruck dieser Krise ist der globale Klimawandel, der bereits angehoben hat und in den kommenden Jahren das Antlitz dieser Welt tiefgreifend verändern wird. Nichts wird mehr sein wie es war – und dieser Herausforderung wird nur zu begegnen sein, wenn die Entwicklung des menschlichen Geistes mit den bevorstehenden klimatischen und ökologischen Veränderungen Schritt halten kann. Dass dies gelingen wird, ist mehr als unwahrscheinlich. Denn bei Lichte besehen bedarf es nicht mehr und nicht weniger als eines globalen Bewusstseinswandels, eines radikalen Umdenkens bzw. einer ganz neuen Weltsicht. Alle Potenziale des menschlichen Geistes aus allen kulturellen und religiösen Traditionen stehen deshalb heute vor der Herausforde- rung, sich in ein umfassendes globales Ethos zu integrieren – getragen von einer globalen Spiritualität, die nicht länger an den Grenzen der eigenen Konfession halt macht, sondern aufbricht in die allumfassende, universale Wirklichkeit des göttlichen Geistes. Gewiss gibt es heute schon überall auf der Welt Orte, an denen ein neues globales Bewusstsein hervortritt – doch ebenso gewiss ist, dass es fundamentale bis fundamentalistische Abwehrreflexe gibt, die sich jedem Aufbruch verweigern. Wie in Folge des meteorologischen Klimawandels, so wird es auch im Zuge des analog zu ihm verlaufenden geistigen Klimawandels gewaltige Kämpfe und Verwerfungen geben. Deswegen müssen, um den bevorstehende Herausforderungen begegnen zu können, alle Kräfte konzentriert und gebündelt werden: politische, ökonomische, technische, kulturelle, spirituelle. Das ist nicht unmöglich, aber es bleibt nicht mehr viel Zeit.

Wie lässt sich die Situation der Gegenwart beschreiben? Auf den Punkt gebracht könnte man sagen: Die Welt ist aus dem Gleichgewicht geraten, und zwar in jeder Hinsicht. Das gilt vom Öko-System genauso wie vom Sozialen System, von der Weltwirtschaft genauso wie von der Weltpolitik – ja, es gilt von der Mehrzahl all der sechseinhalb Milliarden Individuen, die den Globus bevölkern. Kurz: Die Welt braucht eine neue Balance. Damit sie wieder stimmt, muss sie neu gestimmt werden. Das verlorene Gleichgewicht muss auf allen Ebenen wieder hergestellt werden. Aber wie soll das gehen?

Um ein System in eine harmonische Balance zu bringen, bedarf es eines ihm spezifischen inneren Maßes: eines Maßes, das ihm vorgibt, wie die einzelnen in ihm versammelten Teilaspekte in ein stimmiges Ganzes verwoben werden. Und so ist es der Verlust des Bewusstseins für die Notwendigkeit eines inneren Maßes, das die Menschheitskrise der Gegenwart hervorgeru- fen hat. Die Weltwirtschaft erscheint maßlos – und die Politik vermessen. „Gibt es auf Erden ein Maß“, fragte vor zweihundert Jahren Friedrich Hölderlin. Die Antwort, die er sich gab, klingt heute plausibler denn je: „Es gibt keines.“ Das heißt nicht, dass es ein solches Maß nicht geben könnte. Im Gegenteil: Es heißt, dass es ein solches Maß gibt – nur eben nicht auf Erden, sondern… – ja wo? Im Himmel? Vielleicht nicht im Himmel, aber doch in einer anderen Dimension: in genau der Dimension, zu der hin sich zu entwickeln der menschliche Geist heute aufgefordert ist – zu der sich, das menschliche Bewusstsein heute öffnen muss. Aber noch einmal: Wie soll das gehen?

Die Krise des anhebenden 21. Jahrhunderts ist nicht zuletzt eine Krise der technisch- rationalen Vernunft. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns heute eingestehen, dass das in der westlichen Welt zum Ende des 18. Jahrhunderts begonnene Experiment, die Welt mit den Instrumenten von Wissenschaft, Technik und Liberalismus zu einem diesseitigen Eden zu machen, gescheitert ist. Gekommen ist nicht das Paradies, sondern der Klimawandel. Dass er gekommen ist, gibt zu erkennen, worin das Versäumnis dieses Experimentes lag. Bedingt durch den philosophisch-theologischen Dualismus von Leib und Geist, der sich zu Beginn der Neuzeit in Europa etablierte, wurde im Zuge einer Überschätzung der Ratio die irdische Verwurzelung des Lebens ausgeblendet. Der Mensch wollte und sollte, wie der Philosoph René Decartes formulierte

„Meister und Eigentümer der Natur“ sein. Er sollte mit der Kraft seines Geistes über die rein materielle-körperliche Welt herrschen. Dieses Denken ebnete jener beispiellosen Ausbeutung der natürlichen Ressourcen den Weg, die uns heute in Gestalt des Klimawandels auf die Füße fällt. Und nicht nur das: Es öffnete ebenso jenem heute dominanten kruden Materialismus die Tür, der sich von der französischen Aufklärung über den Marxschen Sozialismus bis in die mo- derne Konsumgesellschaft hin in den Herzen und Köpfen der Menschen etablierte, nachdem das Vertrauen in die Vernunft mehr und mehr zu schwinden begann.

Die Folge ist ein eindimensionales Menschen- und Weltbild, das sich in allen Bereichen des Lebens durchgesetzt hat. Kennzeichnend dafür ist die Dominanz eines Denkens und Handelns, das sich mit einem Begriff der antiken Philosophie am besten als „Mehr-haben-Wollen“ charakterisieren lässt: Mehr Geld, mehr Macht, mehr Energie, mehr Waren etc. Diese Herrschaft eines allein auf Quantitätssteigerung und Wachstum ausgerichteten Bewusstseins stellt in der gegenwärtigen globalen Krise die größte Bedrohung für die Menschheit dar. Immer deutlich zeigt sich, dass es in keiner Weise den Herausforderungen gewachsen ist, die durch die Stich- worte Klimawandel, Welthunger, Terrorismus etc. angedeutet sind. Diese Herausforderungen sind viel zu komplex, als dass sie mit dem eindimensionalen Denken der Vergangenheit bewältigt werden könnten. Was folglich Not tut, ist ein Bewusstseinsfortschritt, der den Menschen in den vielen Facetten seines Daseins mitnimmt: nicht allein in den kognitiv-rationalen, sondern auch in den affektiv-emotionalen und transrational-spirituellen. Es bedarf eines Bewusstseins- wandel, der die Qualität des Seins wieder über die Quantität des Habens stellt.

Ein drittes Mal: Wie soll das gehen? Nicht gehen wird es auf dem Weg der konventionel- len Moral bzw. Moralphilosophie. Die Moralphilosophie von der frühen Neuzeit über Kant bis hin zu Habermas vertraut auf das menschliche Vermögen, mittels Vernunft und Ratio normative Maßstäbe zu ermitteln, an den sich unser Tun und Lassen sinnvoller Weise ausrichten soll. Das Problem daran ist, dass auf diese Weise immer nur äußere Maßstäbe in Geltung gesetzt werden können, die um- oder durchzusetzen die Herrschaft der Vernunft über alles Irdische, Leibliche und Materielle erzwingt. Damit aber bleibt die Moralphilosophie in den Bahnen eben jenes Be- wusstseins, das die ganze Misere der gegenwärtigen Weltkrise erst möglich machte. Von der Moralphilosophie klassischen Stils ist mithin nicht viel zu erwarten. Was Not tut, ist die Wieder- entdeckung eines inneren Maßes – eines Maßstabes, der uns nicht nur einleuchtet, sondern gleichsam in Fleisch und Blut gegenwärtig ist: eines Maßstabes, der – weil er der Komplexität unseres eigenen Lebens gemäß ist – dem Verhalten in einer pluralen, vernetzten, ganzheitlich verstandenen, globalen Wirklichkeit angemessen ist. Dieser Maßstab hat nicht so sehr mit rationaler Einsichtigkeit zu tun. Vielmehr geht es bei ihm um so etwas wie Taktgefühl und Gleichge- wichtssinn. Das Maß, dessen wir bedürfen, will nicht allein gedacht, sondern es will gefühlt und erspürt sein. Es bedarf eines Antlitzes, in dem es anschaulich wird und durch das es erfahren werden kann. Ein solches Antlitz trägt die Züge der Würde.

Würde ist maßgeblich. Darin besteht ihre Macht. Und ihre Macht ist umso größer, als Würde nie etwas ist, das allein nur gewusst oder gedacht wird. Im Gegenteil: Würde ist etwas,

das sich unserem Fühlen und Spüren erschließt. Würde ist eine Erfahrungsqualität. Darauf hat Friedrich Schiller in seiner Schrift Über Anmut und Würde mit Nachdruck hingewiesen (Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, S. 81) – auch wenn er das Phänomen der Würde darin anders interpretierte, als ich es im Folgenden tun wer- den. Wie dem auch sei. Würde ist jedenfalls deshalb ein tragfähiges Konzept für das Maß, das wir brauchen, um uns angesichts des bevorstehenden geistig-spirituellen Klimawandels angemessen zu verhalten. Und sie ist es, weil sie eine kognitive und eine sinnliche –in diesem Sinne eine ganzheitliche – Komponente hat, die für ein die pure Rationalität transzendierendes, fort- geschrittenes Bewusstsein charakteristisch sein wird.

Was aber heißt: Würde ist maßgeblich? Was ist es an der Würde, das ihr diese Maßgeblichkeit verleiht? Diese Fragen müssen wir beantworten, wenn wir für unsere These werben wollen, die Macht der Würde habe das Zeug, uns bei der Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen maßgeblich zu sein. Wir brauchen ein Verständnis dafür, was Würde we- sentlich ist und ausmacht. Und das verschafft uns am besten ein kleiner Exkurs in die Geschichte der Philosophie.

2. Was ist Würde?

Von alters her eignet dem Konzept Würde – lateinisch dignitas – eine doppelte Bedeu- tung. Einerseits bezeichnet es die hervorgehobene Stellung in einem sozialen Kontext – etwa die dignitas eines pater familiae – andererseits eine Qualität, die dem Menschen als solchem eignet. In der stoischen Philosophie eines Cicero etwa sind die beiden Aspekte darin zusammenge- koppelt, dass die dem Menschen als Menschen eignende Würde in derjenigen seiner Eigen- schaften gründet, die im System der menschlichen Lebensaspekte eine hervorgehobene Stellung einnimmt: die Vernunft. Und eben deshalb verdient die Vernunft die ausdrücklichste Wür- digung. Sie ist gleichsam der pater familiae der Familie menschlicher Lebensaspekte. Wie sich die Würde der Familie in ihrem Oberhaupt verdichtet und manifestiert, so verdichtet und manifestiert sich die Würde des Menschen in seiner Vernunft. Soweit die Stoiker.

Unter dem Einfluss der christlichen Religion in Spätantike und Mittelalter trat dieses Konzept der Würde dann vorübergehend zurück. Erst im Zeitalter des Rationalismus kam es bei Denkern wie Pascal und Pufendorf zu neuen Ehren. Nun entfaltete es seine bis heute spürbare Wirkung: über die Aufklärungsphilosophie bis in die amerikanische Erklärung der Menschenrechte von 1776 und in das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das die Unverletzbarkeit und Unveräußerlichkeit der Würde eines jeden Menschen in seiner Präambel festschreibt.

Daneben aber hat sich bis in unsere Tage hinein eine andere Begründungstradition für die unveräußerliche Menschenwürde gehalten. Sie hat ihre Wurzeln in der Tradition des bibli- schen Denkens und wurde entsprechend durch die christliche Theologie propagiert. Mit großem Erfolg, denn bis heute steht sie im Hintergrund offizieller kirchlicher Verlautbarungen – etwa solcher des Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland. Tatsächlich sind sich Wolfgang Huber und Thomas von Aquin nämlich darin einig, dass die Würde des Menschen in seiner Gottesebenbildlichkeit gründet, wie sie vom biblischen Schöpfungsbericht in Genesis 1,27 behauptet wird. Als Gottes Ebenbild eigne demnach dem Mensch als solchem Würde – und als die Krone der Schöpfung gebührt es ihm, von allen anderen Wesen gewürdigt zu werden. So gesehen ist er der pater familiae der Schöpfung, in dem sich die Würde des Schöpfers abbildet und manifestiert. Diese theologische Begründung der Menschenwürde ist signifikant anders als die philosophische. Sie steht ihr aber nicht entgegen. So gesehen kann man Wolfgang Huber zustimmen, wenn er sagt, eine der „Stärken des Menschenwürdebegriffs“ liege „gerade in seiner universalen Begründungsoffenheit für unterschiedliche weltanschauliche Zugänge.“ Und er hat Recht, wenn er anfügt: „Deshalb braucht eine christliche Interpretation nicht zuückgehalten werden.“

Egal ob nun theologisch durch die Ebenbildlichkeit Gottes begründet oder philosophisch durch den Primat der Vernunfttätigkeit: In der Tradition des westlichen Denkens ist Würde im- mer ein Konzept gewesen, das dem Menschen allein vorbehalten ist. Von einer Würde der Tiere oder einer Würde der Natur konnte weder auf theologischer noch auf philosophischer Basis sinnvoll gesprochen werden. Es ist aber zu bedenken, ob dadurch nicht die Macht der Würde ohne Not eingeschränkt worden ist – und ob es nicht erforderlich ist, die Reichweite der Würde zu erweitern, wenn es uns darum zu tun ist, ihre Macht für die anstehenden Menschheitsaufga- ben fruchtbar zu machen. Wäre es möglich, auch der belebten Natur Würde zuzuschreiben, würde es nicht dem Menschen allein überlassen bleiben, uns ein Gefühl für dasjenige zu geben, was unser aller Leben Maß und Balance verleiht. Fragen wir also: Wie weit reicht das traditionelle Konzept der Würde wirklich? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir tiefer in die Geistesgeschichte eintauchen, um von dort ein noch feineres Verständnis der Würde zu gewinnen.

Dieser Tauchgang wird uns zu den drei bedeutendsten philosophischen Reflexionen über die Würde führen: denen von Immanuel Kant, Friedrich Schiller und Pico della Miradola.

2.1. Immanuel Kant

Als Philosoph der Aufklärung steht Immanuel Kant ganz unter dem Einfluss des Rationa- lismus und damit in der Tradition einer Deutung der Menschenwürde, die sie in der menschlichen Vernunft verwurzelt sieht. Was Kant allerdings weit über alle anderen Theoretiker der Würde erhebt, ist das Niveau seiner Begründung. Kant begnügt sich nämlich nicht damit, ein- fachhin den Primat der Vernunft vor allen anderen Aspekten menschlichen Lebens zu behaup- ten. Vielmehr begründet er ihn durch eine kritische und tiefschürfende Analyse der Vernunft selbst. Die einschlägigen Passagen für unser Thema finden sich in der Grundlegung zu einer Me- taphysik der Sitten von 1785. In dieser berühmt gewordene Schrift entfaltet Kant die Grundlagen seiner Moralphilosophie und entwickelt aus ihnen seinen kategorischen Imperativ als das Grundprinzip aller Sittlichkeit und Ethik.

Es würde zu weit führen, hier nun in der gebotenen Ausführlichkeit die Kantische Moral- philosophie darzustellen. Nur so viel sei skizziert, wie es für das Verständnis von Kants Konzept der Würde erforderlich ist: Im Hintergrund dieses Konzeptes steht eine Gedankenfigur, die man Kants anthropologischen Dualismus nennen könnte. Als Kind des Rationalismus unterscheidet er zwei Aspekte des Menschseins: hier den Menschen als Vernunftwesen beziehungsweise homo nooumenon, da den Menschen als Sinneswesen beziehungsweise homo phaenomenon. Der Aspekt des homo phaenomenon umfasst alles Körperliche, Materielle, Affektive – er umfasst all das, worin der Mensch, wie jedes andere Wesen und Phänomen der physikalischen Welt auch, notwendigen Naturgesetzen unterworfen ist, die ihn in seinem Verhalten unausweichlich bestimmen. Daneben aber ist der Mensch auch homo nooumenon. Er ist dies, sofern er kraft seiner Vernunft über ein Vermögen verfügt, Handlungen zu verrichten, die aus eigenem freien Ent- schluss hervorgehen und nicht dem mechanischen Wirkungszusammenhang der Naturgesetze unterliegen. Die Naturgesetze lassen sich wissenschaftlich ermitteln und berechnen. Von der Freiheit kann man das nicht sagen. Sie ist der Berechenbarkeit entzogen und kann daher auch nicht wissenschaftlich bewiesen werden. Aber– und das war für Kant außerordentlich wichtig – es liegt doch im Wesen der Vernunft selbst, Freiheit widerspruchslos denken zu können. Denn auf dieser Grundlage steht es der Vernunft – und dem Philosophen Kant – zu, sie – die Freiheit – als unerschütterliches Fundament der Moralphilosophie behaupten zu dürfen. Das heißt: Die Tatsache, dass wir Menschen Vernunftwesen sind, verbürgt die Möglichkeit, das eigene Verhal- ten frei und autonom zu gestalten. Allein: Diese Freiheit ist keine Willkür. Auch sie unterliegt einer, wie Kant sagt, Legislation. Sie unterliegt einer Gesetzgebung. Aber dies ist nicht die Legislation der wissenschaftlich ermittelbaren Naturgesetze, sondern die Legislation eines Sittengesetzes, das die Vernunft nicht durch empirische Beobachtung, sondern nur durch die kritische Anlayse ihrer selbst ermitteln kann. Für die Moralphilosophie stellt sich damit die Frage:

„Ist es ein notwendiges Gesetz für alle vernünftigen Wesen, ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurteilen, von denen sie selbst wollen können, dass sie zu allgemeinen Ge- setzen dienen sollen? Wenn es ein solches ist, so muss es (völlig a priori) schon mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein.“ (Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 63).

Damit will Kant sagen: Das Sittengesetz muss aus der freien Vernünftigkeit des Menschen selbst heraus entwickelt werden. Es muss dem menschlichen Wollen Handlungsanweisungen bezie- hungsweise Maximen an die Hand geben, die keine andere Begründung haben, als dass sie der Vernunft unmittelbar einsichtig sind. Das heißt: Mit ihnen darf das Handeln keinen anderen Zweck verfolgen als den, der Maßgabe der Vernunft zu folgen. Da – und dies ist nun für Kants Konzept Würde der entscheidende Gedanke – der menschliche Willen immer auf Zwecke und Ziele ausgerichtet ist, muss für das Sittengesetz gelten, dass es den Menschen zu nichts anderem verpflichtet als zu einem Handeln gemäß seiner Vernunft und Freiheit. Vernunft und Frei- heit sind der einzige mögliche Bewegungsgrund für moralisches Handeln. Sie allein sind das, was Kant „einen Zweck an sich nennt“ – weil wir, wenn wir unserem eigenen Wesen gemäß leben wollen, nichts erstreben könnten, was über Freiheit und Vernunft hinausgeht. Deswegen kann Kant sagen:

„Der Mensch, und überhaupt jedes vernünftige Wesen, existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muss in allen seinen, sowohl auf sich selbst als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.“ (Kant, GMS, BA 64f).

Als freies und vernünftiges Wesen ist der Mensch „Zweck an sich“. Dem gilt es zu entsprechend. Das ist der Kerngedanke von Kants ganzer Moralphilosophie. Und aus ihm heraus leitet er als Formulierung des Sittengesetzes und als dessen höchste Manifestation den berühmten Katego- rische Imperativ her, der da lautet:

„Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß all Mittel brauchest.“ (Kant, GMS, BA 66f).

Als freies Vernunftwesen ist der Mensch auf ein Sittengesetz verpflichtet, dass keine andere Begründung kennt, als sein eigenes Wesen – seine eigene Freiheit und Vernünftigkeit. Keinem anderen Zweck ist er in seinem Tun und Lassen unterworfen, als dem, in Freiheit und Vernunft seinem eigenen Menschsein zu genügen. Und eben darin, so Kant, liegt seine Würde:

„Die Vernunft bezieht […] jede Maxime des Willens als allgemein gesetzgebend auf jeden an- deren Willen, und auch auf jede Handlung gegen sich selbst, und dies zwar nicht um irgend eines andern praktischen Bewegungsgrundes oder künftigen Vorteils willen, sondern aus der Idee der Würde eines vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze gehorcht, als dem, das es zugleich selbst gibt. [Denn] was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürf- nisse bezieht, hat einen Marktpreis; […] das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, son- dern einen innern Wert, d.i. Würde.“ (Kant, GMS, BA 77).

Damit ist es heraus: Für Kant gründet die Würde darin, dass der Mensch – als freier, al- lein dem vernünftigen Sittengesetz verpflichteter homo nooumenon – ein Zweck an sich ist. Und die Würde des Menschen wird entsprechend überall da geachtet, wo diesem Umstand Rech- nung getragen wird: wo der Mensch nicht verzweckt, instrumentalisiert, als Mittel gebraucht wird. Dies zu unterlassen gebietet der Kategorische Imperativ, indem er uns Menschen darauf verpflichtet, die eigene ebenso wie die Würde der anderen zu achten.

So grandios diese Begründung der Würde auch ist, so erscheint es doch problematisch, dass Kant sie so eng an die Vernünftigkeit des Menschen bindet. Auf diese Weise scheinen alle nicht-rationalen Komponenten des Menschen seiner nachgerade unwürdig zu sein. Dieses Problem tritt noch deutlicher zutage, wenn wir uns im nächsten Schritt Schillers Verständnis der Würde zuwenden. Zuvor aber soll festgehalten werden, worin der bleibende und für unsere Fragestellung ungebrochene Wert der Kantischen Konzeption der Würde liegt. Er liegt darin, dass Kant die absolute Maßgeblichkeit der Würde herausgearbeitet hat. Die Macht der Würde besteht ihm zufolge genau darin, dass sie Ausdruck des Wertes des Menschen an sich selbst ist: dass er keinem anderen Maß unterliegt, als demjenigen, das in seinem eigenen Wesen oder seiner eigenen Natur begründet ist. Es ist genau diese Maßgeblichkeit des menschlichen We- sens, die es heute neu zu entdecken gilt, wenn denn die Würde des Menschen in einer maßlos gewordenen Welt als Maß zur Geltung gebracht werden soll. Ob allerdings das Wesen des Men- schen allein in seiner Vernunft liegt und diese damit zum Maß aller Dinge erhoben werden kann, ist angesichts des eingangs behaupteten Scheiterns der wissenschaftlich-technischen Weltbeherrschung fraglich.

2.2 Friedrich Schiller

„Beherrschung der Triebe durch die moralische Kraft ist Geistesfreiheit, und Würde heißt ihr Ausdruck in der Erscheinung.“(Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, in: Ders., Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik, S. 81)

In diesem Satz ist verdichtet, was Schiller zum Thema Würde zu sagen hat. Zweierlei fällt daran auf: Zum einen ist erkennbar, dass Schiller in seinem Verständnis der Würde ganz unter dem Einfluss Kants steht. Die Würde gründet für ihn einzig und allein in der Moral: in einem au- tonomen, freien Willen, der sich in seinem Tun und Lassen ganz vom Sittengesetz und dessen kategorischem Imperativ in die Pflicht nehmen lässt – einem Willen, der sich jeder Determinati- on durch die Sinne, die Affekte oder den ihnen entsprechenden Zwecken entzieht. Würde wird damit zur Qualität eines strengen Regimentes der Vernunft im Reiche der menschlichen Seele. Der Vernunft – als einem seelischen pater familiae – allein eignet dignitas; und dies je mehr, desto deutlicher und autoritärer sie auftritt – weshalb Schiller dann auch ihren „höchsten Grad“ in der „Majestät“ erkennt (Schiller, a.a.O., S. 91):

„Bei der Würde führt sich der Geist in dem Körper als Herrscher auf, denn hier hat er seine Selbstständigkeit gegen den gebieterischen Trieb zu behaupten, der ohne ihn zu Handlungen schreitet und sich seinem Joch gern entziehen möchte.“(Schiller, a.a.O., S. 83)

In diesen Worten wird eine Tendenz erkennbar, die wir schon bei Kants Konzept der Würde vermuteten. Hier wird sie ausdrücklich: Schiller wie Kant feiern die Würde als maßgebliche Instanz menschlicher Moral. Aber sie tun dies um den Preis eines ganzheitlichen, den Menschen auch in seiner Leiblichkeit und Sinnlichkeit achtenden Menschenbildes. Die Würde gerät ihnen zur Qualität einer Gewalt, mit der sich die menschliche Vernunft gegen die menschliche Sinnlichkeit durchsetzt. In Schillers Worten: Die Würde ist „Ausdruck des Widerstandes […], den der selbständige Geist dem Naturtriebe leistet“ (Schiller, a.a.O., S. 84)

Wichtig ist dabei das Stichwort „Ausdruck“. Es führt uns auf den zweiten signifikanten Aspekt des Schillerschen Konzeptes der Würde. Denn wenn wir auch seiner Engführung von Würde und Vernunftherrschaft nicht folgen können, so lässt sich aus ihm doch lernen, woher die Macht der Würde kommt. Oder anders gesagt: Wenn uns auch die Ausführungen Kants und Schillers zum Wesen der Würde nicht überzeugen, so können wir ihnen doch wichtige Einsichten über die Wirkung der Würde entnehmen – die Wirkung, die darin besteht, mächtig zu sein.

Wie gesagt: Das entscheidende Stichwort heißt „Ausdruck“. Würde, so Schiller, ist „Ausdruck “ des geistigen Widerstands beziehungsweise der „moralischen Kraft“ und „Geistfreiheit“ „in der Erscheinung“. Das bedeutet: Würde ist für Schiller ein ästhetischer Begriff. Will sagen: Würde ist die Qualität einer Erscheinung. Würde ist die Qualität einer Erfahrung. Und als solche spricht sie uns nicht oder nicht nur auf kognitive Weise an. Als Erfahrungsqualität ist sie etwas, das erfühlt und erspürt werden muss: etwas, das uns in Herz und Bauch berührt und von genau dort aus seine maßgebliche Macht entfalten kann. Würde ist mächtig, weil sie unser inneres Maß berührt – zumindest dann, wenn wir den Sinn für Würde ausgeprägt haben. Das kann man sich einfach klar machen. Überlegen Sie nur: Von jemandes Würde kann und muss man niemanden überzeugen: man muss lediglich die Sensibilität für sie schärfen. Die Macht der Würde liegt in dieser ihrer ästhetischen oder sinnlichen Kraft.

Allein, es bleibt die Frage: Was ist es denn, das mit der Macht der Würde zur Erscheinung kommt? Ist es, wie Schiller und Kant meinen, die moralische Kraft, die Geistfreiheit, der dem Sittengesetz verpflichtete Willen in seinem Widerstand gegen die Triebe? Wäre es nur das, wür- de sich das Konzept Würde bei aller sinnliche Potenz nicht als maßgebliches Kriterium für das globale Miteinander anbieten. Vielmehr würde es den im Klimawandel in seiner ganzen Bedrohlichkeit manifest werdenden Dualismus von Vernunft und Körper fortschreiben. Die irdische Verwurzelung des Lebens bliebe ausgeblendet und die Zerstörung der Erde ginge gerade so weiter. Was Not tut ist ein umfassenderes, ganzheitlicheres Verständnis des Menschen und seiner Würde – ein Verständnis der Würde, das die Maßgeblichkeit des Menschen als eines Wertes an sich nicht in der Herrschaft der Vernunft über Leib und Sinne begründet sieht, sondern in der harmonischen und stimmigen Integration aller Aspekte des Lebens. Ein solches Konzept der Würde muss nicht erfunden werden. Wir finden es in einem anderen der klassischen Texte zu unserem Thema: in Giovanni Pico della Mirandolas Traktat De Hominis Dignitate (Über die Würde des Menschen) von 1485.

2.3 Giovanni Pico della Mirandola

Giovanni Pico della Mirandola ist eine der erstaunlichsten intellektuellen Figuren der ita- lienischen Renaissance. Als enger Freund von Marsilio Ficino, dem Begründer der florentischen Akademie, verkehrte er in seinem kurzen Leben (1463-1494) mit den großen Geistern seiner Zeit. Er wurde exkommuniziert, eingekerkert und wieder in die Kirche aufgenommen. Sein be- rühmtestes Werk ist seine Schrift über die „Würde des Menschen“ – ein Thema, dem sich sei- nerzeit fast alle Renaissance-Humanisten widmeten, deren Texte aber meist in Vergessenheit gerieten. Mit Picos Werk ist das anders. Zu Recht. Denn anders als seine Weggefährten, die sich bei ihrem Reflexionen über die Würde ganz in den Fußspuren Ciceros bewegten, wählte Pico einen anderen, durch die Philosophie Platons motivierten Weg. Nicht die Vernunft erscheint ihm als Garant der menschlichen Würde, sondern die Kreativität. Diesen Gedanken entwickelt er aus einer kühnen eigenen Lesart der Schöpfungsgeschichte:

„Endlich beschloss der höchste Künstler (Gott), dass der, dem er nichts eigenes geben konnte, Anteil habe an allem, was die einzelnen [Wesen] jeweils für sich gehabt hatten. Also war er zu- frieden mit dem Menschen als einem Geschöpf von unbestimmter Gestalt, stellte ihn in die Mit- te der Welt und sprach ihn so an: „Wir haben dir keinen festen Wohnsitz gegeben, Adam, kein eigenes Aussehen noch irgendeine besondere Gabe, damit du den Wohnsitz, das Aussehen und die Gaben, die du dir selbst ausersiehst, entsprechend deinem Wunsch und Entschluss habest und besitzest. […] Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch un- sterblich geschaffen, damit du wie dein eigner, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bild- hauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst.“  (Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate/ Über die Würde des Menschen, übers. Von Norbert Baumgarten, hg. V. August Buch, lt.-dt., Hamburg 1990, S. 5f.)

Folgen wir Pico, dann ist es der Kreativität des Menschen überantwortet, etwas aus sei- nem Leben zu machen. Und in dieser Fähigkeit wurzelt seine Würde. Sie wurzelt nicht darin, dass ein Aspekt seiner Lebenswirklichkeit – die Vernunft – die anderen Aspekte beherrscht.

Sondern sie wurzelt darin, dass er über die Kreativität verfügt, alle Aspekte seines Lebens so auszuformen, dass sie ein in sich stimmiges Ganzes bilden. „Im Menschen“, sagt Pico, „sind bei seiner Geburt von Gottvater vielerlei Samen und Keime für jede Lebensform angelegt; welche ein jeder hegt und pflegt, die werden heranwachsen und ihre Früchte in ihm tragen“ (Pico della Mirandola, a.a.O., S. 7). Diese „Hege und Pflege“ aber ist ganzheitlich angelegt. Unserer Würde entsprechen wird Menschen nach Pico am besten dann, wenn wird diese „Samen und Keime“ in eine stimmige Harmonie des Lebens fügen. In seiner eigentümlich pathetischen Renaissance-Sprache bringt Pico dies wie folgt auf den Begriff:

„Wenn die Kräfte der Leidenschaften […] durch die nötige symmetrische Anordnung so auf den Rhythmus (der Seele) ausgerichtet sind, dass sie miteinander in sicherem Einklang harmonieren, und sich die Vernunft […] beim Voranschreiten im Takt bewegt, dann werden wir, durch die Ver- zückung der Musen erregt, die himmlische Harmonie förmlich einsaugen.“ (Pico della Mirandola, a.a.O., S. 25).

In dem Maße aber, in dem wir die „himmlische Harmonie“ einsaugen, entsprechen wir unserer Würde als „Bildhauer“ oder – im Sinne dieses Bildes besser – als Komponisten unseres eigenen Lebens. Indem wir das Leben in eine stimmige Symphonie verwandeln, verleihen wir unserer Gottesebenbildlichkeit als Schöpfer eines harmonischen Lebens Ausdruck. Und Würde ist im Sinne Picos entsprechend nicht wie bei Schiller der Ausdruck der Geisteskraft in der Er- scheinung, sondern der sinnenfällige Ausdruck menschlicher Kreativität in einem in sich stimmigen, harmonischen Leben. Als solcher aber ist sie, ganz im Sinne Kants, ein Wert an sich. Auch für Pico bemisst sich der Wert der Würde nach dem menschlichen Leben selbst – nun aber nicht nach seinem Vermögen, in sich ein Regiment der Vernunft über Leib und Sinne zu errichten, sondern nach seinem Vermögen, sich selbst zu einer stimmigen Symphonie fügen, in der Leib, Sinne und Geist harmonisch zusammenspielen. In diesem kreativen Vermögen gründet die menschliche Würde. Und ihre Macht resultiert daraus, dass sie uns in ihrem Erscheinen sinnenfällig dazu auffordert, unser Leben ebenso wie das Leben auf diesem Globus im Ganzen in einem umfassenden Sinne in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen

3. Die Macht der Würde

Folgen wir Pico della Mirandola, dann eignet sich die Würde deshalb als Maßstab für eine nachhaltige, gerechte und lebensdienliche Neuordnung der Welt, weil in ihr das innere Maß des Lebens sinnenfällig wird. An der Würde Maß zu nehmen, heißt: An dem inneren Maßstab allen Lebens Maß zu nehmen: an dem Maßstab, der darin besteht, dass alles Leben darauf ange- legt ist, ein stimmiges und harmonisches Gleichgewicht seiner Aspekte auszubilden. Im Bereich der Medizin nennen wir dieses Gleichgewicht „Gesundheit“, im Bereich der Kunst nennen wir es „Schönheit“, im Bereich der Ökologie „Nachhaltigkeit“, im Bereich der Politik „Gerechtigkeit“ oder „Frieden“– und als Erfahrungsqualität in der Erscheinung eines Lebewesens nennen wir es „Würde“.

So verstanden ist die Würde aber nicht das Monopol des Menschen. Wenngleich sie an keinem anderen Lebewesen so sinnenfällig auftritt wie an ihm, kann man im freien Anschluss an Pico della Mirandola durchaus auch von einer Würde der Natur reden. Denn wo immer ein lebendiges Wesen – ob Mensch, Tier, Gemeinwesen oder Klima – in sich das innere Maß des Lebens zum Ausdruck bringt, ist seine Erscheinung darin maßgeblich. Wo diese Maßgeblichkeit gespürt und empfunden wird, sagen wir: Es hat Würde. Oder: Es ist würdevoll. Und wenn wir diese Maßgeblichkeit wirklich spüren und verinnerlichen, werden wir alles daran setzen, unser eigenes ebenso wie unser gesellschaftliches Leben nach dieser Maßgabe zu gestalten: sei es im Blick auf Frieden, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit oder wie immer wir die Erscheinungsformen des Lebens im Gleichgewicht nennen wollen.

Das kreative Vermögen, das eigene Leben nach Maßgabe seines inneren Maßes zu innerem Einklang und Harmonie zu fügen, eignet jedem Menschen. Deswegen können wir auch im Sinne des hier entwickelten Verständnisses der Würde sagen, dass sie jedem Menschen unver- äußerlich ist. Ebenso wird man sagen müssen, dass sie je nach dem Grad, in dem es einem Men- schen gelingt, mit sich und seiner Umwelt im Einklang zu sein, stärker oder schwächer in Er- scheinung tritt. Wo das innere Maß am deutlichsten hervortritt, werden wir – wie es dem Sprachgebrauch entspricht – einem Menschen ausdrücklich Würde zusprechen. Das wird uns aber nicht daran hindern, sie genauso als unveräußerliche Qualität eines jeden anderen anzuerkennen – weil auch jeder andere in sich das Vermögen besitzt, sein Leben nach Maßgabe seines inneres Maßes in Harmonie und Balance zu führen.

Damit nun das Bewusstsein für die unveräußerliche Würde eines jeden Menschen – und darüber hinaus eines jeden lebendigen und beseelten Wesens – wächst, sind wir berufen, unse- re Würde immer aufs Neue Gestalt zu verleihen. Dies kann geschehen in einer dem eigenen Dasein gewidmeten Lebenskunst, es kann geschehen in den Werken der schönen Kunst, es kann geschehen in einem nachhaltigen und fairen Wirtschaften, es kann geschehen in einer gerech- ten Weltpolitik. Es wird aber nur geschehen, wenn es uns gelingt, ein neues Bewusstsein auszuprägen, das Maß nimmt an der Schönheit und Würde des in sich stimmigen kreativen Lebens.

Würde ist maßgeblich. Und Würde ist mächtig. Macht ist ein Potenzial, das genutzt werden will. Unsere maßlose und vermessene Welt braucht dieses Potenzial. Darum ist es an der Zeit, die Macht der Würde frei zu setzen. Denn auf Erden gibt es kein besseres Maß als sie.