„Der Fall Heidegger ist ein intellektuelles wie moralisches Desaster deutscher Geistesgeschichte“, schließen Alexander Camman und Adam Soboczynski in der „Zeit“ vom 13. Oktober 2016 ihren Kommentar zur Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen dem Philosophen Martin Heidegger und seinem Bruder Fritz. Der Satz trifft zu – gesetzt, man versteht ihn nicht so, wie die Autoren ihn meinen: als abschließendes Wort über den Philosophen und Menschen Martin Heidegger, der sich in den veröffentlichten Briefen einmal mehr als „früher und leidenschaftlicher Anhänger des Nationalsozialismus“ verrät, sondern als Aussage über die Art und Weise, wie in akademischer Welt und Feuilleton mit diesem Tatbestand umgegangen wird.
Dass Heidegger ein Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung war, steht außer Frage. Dass er sich moralisch dabei diskreditiert hat, ebenso. Die nun veröffentlichten Passagen aus dem Briefwechsel mit dem Bruder sind spätestens seit dem Erscheinen von Heideggers „Schwarzen Hefte“ keine Überraschung. Umso mehr stellt sich die Frage, warum der Nazi Heidegger gleichwohl erneut als Sau durchs intellektuelle Dorf getrieben werden muss – warum das Heidegger-Bashing zu einer Art Lieblingsdisziplin der Feuilletonisten geworden ist.
Ein Verdacht drängt sich auf: Man möchte Heidegger loswerden. Man möchte sich nicht länger mit einem Denker befassen müssen, der nicht nur schwer verständlich und anspruchsvoll zu lesen ist, sondern dessen Philosophie die Parameter und Kategorien der uns heute geläufigen Denkungsart (um ein Wort Kants zu bemühen) radikal in Frage stellt. Heidegger ist unbequem; da kommt es der faulen Vernunft (um ein Wort Hegels zu bemühen) zupass, wenn man ihn erst als Nazi brandmarken und sodann guten Gewissens auf der Müllhalde der Moral entsorgen kann.
Das ist verständlich, denn – um es zu wiederholen – Heidegger hat moralisch versagt und er war vermutlich das, was man (mit Verlaub) ein Arschloch nennen kann. Aber dass das Heidegger-Bashing verständlich ist, heißt nicht, dass es klug ist. Nein, es ist nicht klug. Es ist vielmehr dumm. Mehr noch: Es ist ein „intellektuelles wie moralisches Desaster“. Warum?
Bevor die jüngeren Veröffentlichungen aus Heideggers privatem Schrifttum jeden Zweifel über seine nationalsozialistische Gesinnung ausräumten, herrschte in der intellektuellen, respektive philosophischen Welt Einigkeit darüber, dass Heidegger ein Denker sei, mit dem sich auseinanderzusetzen, mindestens lohnend sei. Der Autor von „Sein und Zeit“ galt als wichtige Stimme des Existenzialismus und als Wegbereiter der philosophischen Hermeneutik, der späte Heidegger als profunder Analytiker der Sprache, der Technik, der Metaphysik. Es ist schwer einzusehen, warum all das nicht mehr stimmen soll, nur weil der Mensch Heidegger ein Nazi war. Kein Mensch käme auf die Idee, sich die Aristoteles-Lektüre zu versagen, weil er glühender Verfechter der Sklaverei war – oder die Luther-Lektüre zu verbieten, weil er „das Weib“ an den Herd verbannen wollte und sich gelegentlich als scharfzüngiger Antisemit profilierte.
Selbst wenn zutreffen sollte, dass Heideggers Denken an sich faschistoid oder latent nationalsozialistisch ist, bedeutet das in keiner Weise, dass man nicht mehr Heidegger lesen sollte. Im Gegenteil: Es leitet sich daraus eine Frage her, die ob ihres verstörenden Gehaltes wohl manchen Intellektuellen davor zurückschrecken lässt, sich ihr auszusetzen, die ungestellt zu lassen jedoch durchaus desaströse Folgen zeitigt. Es ist die Frage, wie es eigentlich sein kann, dass sich ein so profunder und kluger Kopf wie Heidegger mit dem Nationalsozialismus identifizieren konnte. Es ist die Frage, ob es womöglich etwas am Nationalsozialismus gab, das aller Perversion, Unmenschlichkeit und moralischen Verwerflichkeit zum Trotz gültig daran war – so gültig, dass nicht nur ein Heidegger, sondern mit ihm Millionen gut ausgebildeter und kluger Menschen sich einem aus heutiger Sicht unzweifelhaft verabscheuenswürdigen Führer und seiner Bewegung anvertrauten.
Wenn man sich nicht damit begnügen möchte, dass Heidegger nun mal ein Nazi-Arschloch war und sich deshalb jede weitere Beschäftigung mit ihm verbietet, dann muss sich einem allein aus intellektueller Redlichkeit diese Frage aufdrängen. Und das ist gut so, denn diese Frage ist – gerade weil sie so verstörend und anstößig ist – in jeder Hinsicht notwendig. Fragen wir also: Was ist es, das Heidegger zum Nazi machte? Die Frage muss gestellt werden, weil sich mit ihr die Chance auftut, den erschütternden Erfolg des Nationalsozialismus in der Tiefe zu verstehen; und weil wir nur dann die echte Chance haben, seine Wiederkehr zu verhindern, wenn wir seine tieferen, geistigen Ursachen ans Licht gebracht haben. Verzichten wir darauf, dann arbeiten diese Ursachen untergründig weiter, bis dass der giftige Erreger neue Symptome zeitigt, die dann als Pegida oder AfD aufkeimen. Dass Deutschlands Intellektuelle dieser Pest offenbar hilflos gegenüberstehen, könnte damit zusammenhängen, dass sie neuerdings dazu übergegangen sind, sich im Blick auf die NS-Zeit darauf zu beschränken, moralische Verurteilungen auszusprechen anstatt sich der Mühe des Verstehens zu unterziehen.
Dabei ist die Sache gar nicht so schwer, wenn man sie auf den Spuren Heideggers angeht, das heißt: fragend. Die Frage, die zu stellen ist, lautet: Auf welche Frage glaubte Heidegger im Nationalsozialismus die passende Antwort gefunden zu haben? Die Antwort darauf findet der aufmerksame Leser in Heideggers Texten. Denn durchweg kreist sein Denken um eine Kernfrage: Wie lässt sich der drohende Verlust menschlicher Lebendigkeit (bei Heidegger: Eigentlichkeit oder Wesentlichkeit) abwenden? Diese Frage treibt Heidegger in „Sein und Zeit“ um, in seiner akribischen Analyse des Ursprungs und der Geschichte des europäischen Mind-Sets, in seiner Beschäftigung mit Nietzsche, Hölderlin und dem fernen Osten, in seinem Ergründen von Sprache und Technik. Und eine politische Antwort auf diese Frage glaubte er im nationalsozialistischen Aufbruch zu finden – womit er, wie wir wissen, einer verhängnisvollen Täuschung erlag; genauso wie Millionen anderer, die diese Frage vielleicht nicht ausdrücklich stellten, geschweige denn philosophisch ergründeten, sondern die sich, von einer diffusen Sehnsucht bewegt, mit Haut und Haar dem Führer verschrieben.
Dass dessen Antworten nicht nur falsch, sondern pervers und absurd waren, ändert nichts an der Berechtigung der Frage. Was sich allein daran zeigt, dass sie heute genauso wirkt wie in den 1930er Jahren – einfach, weil sie noch immer unbeantwortet ist. Denn die meist dumpfe Ahnung dessen, dass irgendetwas schief läuft in der Welt und der Mensch durch Ökonomismus, Konsumismus, Technizismus etc. zunehmend von seinem Wesen und der ihn umgebenden Natur entfremdet ist, bleibt auch da mächtig, wo man nicht mehr wie Heidegger dafür dem „Amerikanismus“ die Schuld gibt, sondern seinem Unbehagen andere Ausdrucksformen gibt: Ausländerfeindlichkeit hier, Konsumrausch da, Flucht in Esoterik, hemmungsloser Narzissmus, Abtauchen in virtuelle Welten. Dass all das keine zufälligen Phänomene, sondern miteinander zusammenhängende Symptome einer fundamentalen Pathologie unserer Denkungsart sind: das kann lernen, wer den Mut aufbringt, die Frage zu erfragen, die nach 1930 millionenfach so erschütternd falsch beantwortet wurde – und den Mut, die Wahrheit der Frage anzuerkennen, wenngleich die auf sie gegebenen falschen Antworten in Unmenschlichkeit und Bestialität mündeten.
Diesen Mut nicht aufzubringen, ist ein „intellektuelles wie moralisches Desaster deutscher Geistesgeschichte“. Denn wer die Fragen nicht ernst nimmt, die einst den Nationalsozialismus und heute die Neo-Faschisten in ganz Europa nähren, wird nie in der Lage sein, dieser Seuche ein Ende zu bereiten. Der Sumpf lässt sich nur trocken legen, wenn man bessere, fundiertere, tragfähigere Antworten auf die Entfremdung des Menschen zu geben weiß. Nach solchen Antworten suchte der späte Heidegger. Ihn als Wegbegleiter preiszugeben, ist töricht. Besser wäre es, sich von ihm anstößige, das Denken anstoßende Fragen zuspielen zu lassen. Etwa, was es denn heißen kann, wenn er vor fünfzig Jahren gegenüber dem „Spiegel“ äußerte: „Nur noch ein Gott kann uns retten.“ Oder wie wir das anfangen können, was er zur Sprache brachte: „Uns bleibt die einzige Möglichkeit, im Denken und im Dichten eine Bereitschaft vorzubereiten für die Erscheinung des Gottes“. Solche Fragen zu stellen, ist den Schweiß der Tapferen wert. Weiter auf Heidegger einzuprügeln, ist hingegen Zeitverschwendung.
Christoph Quarch 10/2016 (Dieser Text wurde an die entsprechende Zeit-Redaktion gesendet, dort aus Platzgründen abgelehnt…)