DER PERVERTIERTE WILLEN ZUR MACHT

Wer die neue Rech­te bekämp­fen will, muss ihre inne­re Logik verstehen
Von Chris­toph Quarch
„Reden wir nur davon, ihr Wei­ses­ten, ob es gleich schlimm ist. Schwei­gen ist schlim­mer; alle ver­schwie­ge­nen Wahr­hei­ten wer­den giftig.“
(Fried­rich Nietzsche)
Was ist los in Deutsch­land? Woher die­ses Auf­lo­dern rech­ter Gesin­nung? Woher die­se Gewalt, woher der blan­ke Hass auf Dres­dens oder Chem­nitz Straßen?

Es gibt auf die­se Fra­gen kei­ne ein­fa­chen Ant­wor­ten. Und eben­so wenig gibt es ein­fa­che Rezep­te, die ver­rie­ten, wie man dem begeg­nen muss, was dort inmit­ten unse­rer Gesell­schaft wütet. Kein Aktio­nis­mus hilft hier wei­ter, kei­ne mora­li­schen Appel­le und Urtei­le von Gut und Böse, kei­ne Gegen­de­mos und kein Hash­tag „Wir sind mehr“. Das ist ja alles gut und schön, doch bringt es uns nicht wei­ter. Was uns wei­ter­bräch­te, wäre der Mut, den Tat­sa­chen nüch­tern ins Auge zu sehen und frei von Vor­ur­tei­len und unge­ach­tet mäch­ti­ger Tabus den Blick in die Tie­fe zu wagen bzw. den Weg in die Tie­fe zu erfra­gen – in eine Tie­fe, von der aus erkenn­bar wird, wovon die neue, alte Rech­te ein Sym­ptom ist; wes­sen Ungeis­tes Kind hier spukt.
Will man in die Tie­fe den­ken, ist man gut bera­ten, sich einen kun­di­gen Füh­rer zu suchen – einen, der sich aus­kennt in den Abgrün­den des Lebens und der gera­de, wo es um die kol­lek­ti­ve Psy­che eines Vol­kes geht, scho­nungs­lo­se Fra­gen auf­zu­wer­fen weiß. Nietz­sche ist ein sol­cher Gui­de ins Unbe­dach­te; und an ihn, den Viel­ge­schmäh­ten, kann sich heu­te hal­ten, wer den Spuk der neu­en Rech­te ban­nen will. Denn was sie alle treibt – den Hut-Bür­ger vom LKA, die Volks­ver­het­ze­rin von Storch, den rech­te Mob auf Chem­nitz Stra­ßen – was sie alle treibt, ist, wenn man Nietz­sche folgt, nichts ande­res als das, was er den „Wil­len zur Macht“ nann­te: „Hört mir nun mein Wort, ihr Wei­ses­ten! Prüft es ernst­lich, ob ich dem Leben sel­ber in’s Herz kroch und bis in die Wur­zeln sei­nes Her­zens! Wo ich Leben­di­ges fand, da fand ich Wil­len zur Macht; und noch im Wil­len des Die­nen­den fand ich den Wil­len, Herr zu sein.“
Gewiss müs­sen wir prü­fen, ob der Den­ker, der sol­ches fest­zu­stel­len wag­te, wirk­lich „dem Leben sel­ber in’s Herz kroch“. Doch es wird nicht ver­ge­bens sein, pro­be­wei­se anzu­neh­men, es ver­hal­te sich tat­säch­lich so. Denn dann spielt uns Nietz­sche einen Schlüs­sel zu, mit dem wir uns das Auf­lo­dern der Rech­ten ein Stück weit erschlie­ßen kön­nen – und ineins damit die Aus­sicht auf den Weg erken­nen, wie dem Spuk begeg­net wer­den kann.
Nietz­sche näm­lich weist das Den­ken grad­li­nig hin auf die Kate­go­rien, mit denen wir ihm bei­kom­men kön­nen: Macht, Dienst, Herr­schaft, Wil­len. Und mehr noch. Zwei wei­te­re Begrif­fe kom­men mit ins Spiel: Gehor­sam und Befehl. Am Anfang des Stü­ckes „Von der Selbst-Ueber­win­dung“ aus dem zwei­ten Buch von „Also sprach Zara­thus­tra“, dem schon das obi­ge Zitat ent­nom­men war, lässt Nietz­sche sei­nen Zara­thus­tra sagen: „Aber, wo ich nur Leben­di­ges fand, da hör­te ich auch die Rede vom Gehor­sa­me. Alles Leben­di­ge ist ein Gehor­chen­des. Und das ist das Zwei­te: Dem wird befoh­len, der sich nicht sel­ber gehor­chen kann. So ist des Leben­di­gen Art.“
Hal­ten wir inne. Denn hier sind wir im Herz der phi­lo­so­phi­schen Psy­cho­lo­gie Nietz­sches, die wir brau­chen, um die neue Rech­te zu ver­ste­hen. Es geht bei all dem Spuk, der dort im Osten Deutsch­lands über uns gekom­men ist, um Macht, Gehor­sam, Dienst und Herr­schaft. Tat­säch­lich haben wir es in unse­rem Land mit einer gro­ßen Zahl von Men­schen zu tun, die nicht mehr in die­sen Kate­go­rien zu den­ken ver­mag, wohl aber unbe­wusst nach deren Maß­ga­be zu leben trach­tet. Die­se Dis­kre­panz ist der Nähr­bo­den der kol­lek­ti­ven Psy­cho­pa­tho­lo­gie, die jüngst in Chem­nitz ihre gif­ti­gen Blü­ten trieb. Warum?
Wenn Nietz­sche Recht hat, dann steckt im Men­schen der Drang nach Macht, nach Herr­schaft, nach Dienst und Gehor­sam. Wobei sei­ne Poin­te ist, dass die­ser Drang eine vor­der­hand nicht leicht ver­ständ­li­che Dia­lek­tik auf­weist: Am Anfang näm­lich steht der unbe­wuss­te Wil­le zum Gehor­sam. Der Mensch, so Nietz­sches küh­ne The­se, ist das Wesen, das gehor­chen will. Und zwar sich selbst und sei­nem Wil­len, der ihm sagt, was sei­nem Leben gut und wert­voll ist. Wer frei­lich kei­nen eige­nen Wil­len hat oder in wes­sen Herz der eige­ne Wil­len erlahmt ist, der ist nicht in der Lage, Herr über sich selbst zu sein und sehnt sich umso drin­gen­der danach, sich ande­ren zu unter­wer­fen, die ihm sagen und befeh­len, was er tun und las­sen soll.
Wer nichts hat, was sei­nem Leben Sinn und Rich­tung gibt; wer aus sich her­aus nichts kennt, was sei­nem Leben Wert ver­leiht und was ihm unbe­dingt etwas zu sagen hat – der ist in Nietz­sches Deu­tung Nihi­list. Nihi­lis­mus ist für ihn die Signa­tur der Welt, in der wir heu­te leben: eine Welt, die er in sei­nem „Zara­thus­tra“ auf die For­mel brach­te: „Wer will noch regie­ren? Wer gehor­chen? Bei­des ist zu beschwer­lich.“ Es ist die Welt, die rech­ten Dem­ago­gen den per­fek­ten Nähr­bo­den berei­tet: weil in ihr der unter­grün­dig immer noch leben­di­ge Wil­le zur Macht frei umher­spukt und von ihnen jeder­zeit ergrif­fen und nutz­bar gemacht wer­den kann.
Wie kommt es dazu? Es kommt dazu, wenn man den vie­len Men­schen, die sich sel­ber nicht gehor­chen kön­nen, kei­ne Ange­bo­te unter­brei­tet, wie sie dienst­bar und gehor­sam sein kön­nen. Anders gesagt. Es kommt dazu, wenn es in einer Gesell­schaft nie­man­den mehr gibt, der den Anspruch erhebt, ande­re in den Dienst oder in die Pflicht zu neh­men– ande­ren zu befeh­len. Es kommt dazu, wenn es den „Herr­schen­den“ zu beschwer­lich gewor­den ist zu regie­ren. Eben die­se Situa­ti­on ist ein­ge­tre­ten. Eben des­halb täuscht sich Frau von Storch auf mar­kan­te Wei­se, wenn sie den „Wir sind mehr“-Aktivisten vor­hält, sie sei­en „Mer­kels Unter­ta­nen“. In Wahr­heit bekun­det sie damit die tiefs­te Sehn­sucht ihres und ihrer Gefolgs­leu­te Her­zens: Wir wol­len end­lich wie­der Unter­ta­nen sein: so wie damals unter Hit­ler, so wie damals in der DDR.
Und damit ste­hen wir nun kurz davor, die Per­ver­si­on der neu­en Rech­te zu ver­ste­hen. Nicht weil sie mora­lisch frag­wür­dig oder kei­ne Demo­kra­ten wären, sind die AfD-Wäh­ler, Pegi­da-Demons­tran­ten und Hut-Bür­ger per­vers, son­dern weil sich ihr Wil­le zur Dienst­bar­keit und zum Gehor­sam ver­dreht hat in den Wil­len zu blan­ker, sinn- und ziel­lo­ser Herr­schaft und Gewalt; und zwar ohne dass die­se Men­schen imstan­de wären oder je gelernt hät­ten, sich selbst zu beherr­schen. Also machen sie Het­ze gegen und Jagd auf jene, denen sie sich über­le­gen wäh­nen: die Flücht­lin­ge und Aus­län­der im Lan­de. Es ist so ein­fach: Wer ver­lernt hat zu gehor­chen und sich sel­ber nicht beherr­schen kann, spielt sich gie­rig auf als Herr­scher über Schwä­che­re – ohne jedoch dabei irgend­ei­nem Wert, irgend­ei­nem Sinn, irgend­ei­nem Ziel zu fol­gen außer dem, das eige­ne, klei­ne, hung­ri­ge und macht­lüs­ter­ne Ego zu nähren.
Das eben ist die Per­ver­si­on der neu­en Rech­ten: dass die­je­ni­gen, die eigent­lich gehor­chen wol­len und in Wahr­heit auch nichts ande­res kön­nen, sich aus Man­gel an Gele­gen­heit dazu als Herr­scher und Befeh­len­de gerie­ren. Des­halb ist ihr Wüten ein Spuk: ein Geis­ter­tanz der Per­ver­si­on und Unwahrheit.
Dazu hät­te es nicht kom­men müs­sen. Dazu kam es aber, weil die­je­ni­gen ver­sag­ten, die – pro for­ma jeden­falls – die Herr­schen­den im Lan­de sind, die aber lan­ge schon nicht mehr die Herr­schaft aus­zu­üben wagen: die sich scheu­en zu befeh­len und Gehor­sam ein­zu­for­dern; die sich scheu­en, ande­re in Dienst zu neh­men; denen das Regie­ren zu unbe­quem gewor­den ist und die lie­ber (schein­bar) alter­na­tiv­lo­se Sze­na­ri­en her­auf­be­schwö­ren als in die Ver­ant­wor­tung für das Gemein­we­sen zu gehen. Auch denen hat Nietz­sche ein Wort zu sagen: „Diess aber ist das Drit­te, was ich hör­te: dass Befeh­len schwe­rer ist, als Gehor­chen. Und nicht nur, dass der Befeh­len­de die Last aller Gehor­chen­den trägt; und dass leicht ihn die­se Last zer­drückt: – Ein Ver­such und Wag­nis erschien mir in allem Befeh­len; und stets, wenn es befiehlt, wagt das Leben­di­ge sich sel­ber dran.“
Hier sind wir nun in jenen Win­kel der von Nietz­sche meis­ter­lich ent­hüll­ten Dia­lek­tik der mensch­li­chen See­le gelan­det, den wir aus­leuch­ten müs­sen, wenn wir ver­ste­hen wol­len, wovon der Spuk der neu­en Rech­ten lebt: Er lebt von einem Macht­va­ku­um, das in unse­rer Gesell­schaft seit dem Fall der Mau­er ent­stan­den ist. Die poli­ti­sche Klas­se der Regie­ren­den erweckt mit jeder neu­en Legis­la­tur von Ange­la Mer­kel mehr und mehr den Ein­druck, die Regie­rungs­ar­beit ein­ge­stellt zu haben: kein Risi­ko, kein Ver­such, kein Wag­nis – statt des­sen Ver­wal­tung, Kri­sen­ma­nage­ment und Dele­ga­ti­on der Macht an anony­me Kräf­te wie den „Markt“, „die Wirt­schaft“, „Brüs­sel“. Ange­la Mer­kel hat ein Macht­va­ku­um ent­ste­hen las­sen, in das die neue Rech­te drängt. Auch das gehört zur Per­ver­si­on von AfD und von Pegi­da: dass sie in Ange­la Mer­kel genau die Kraft bekämp­fen, derer sich ihre eige­ne Exis­tenz verdankt.
Man könn­te auch von einer Tra­gö­die spre­chen, deren Plot erschüt­tern­der Wei­se nicht neu ist: Wenn die eigent­lich Regie­ren-Sol­len­den von ihrer Macht zum Befeh­len kei­nen Gebrauch machen, dann wer­den die eigent­lich Gehor­chen-Wol­len­den, eben die­se her­ren­lo­se Macht ergrei­fen und unwei­ger­lich miss­brau­chen; ein­fach des­halb, weil sie sich nicht selbst gehor­chen kön­nen. Dass eben das bei der neu­en Rech­ten der Fall ist, zeigt aufs Anschau­lichs­te jener Dres­de­ner Hut-Bür­ger, der so wenig Mut und Wag­nis, so wenig Ver­ant­wor­tungs­be­wusst­sein und Kom­pe­tenz auf sich ver­eint, dass er nicht ein­mal die Cou­ra­ge hat, sich als Per­son zu zei­gen und für sein Ver­hal­ten ein­zu­ste­hen: das tota­le Gespenst, eine Figur aus Alpträumen.
Was ist zu tun? Das gesell­schaft­li­che Macht­va­ku­um muss besei­tigt wer­den. Das aber ist ver­track­ter Wei­se eine Auf­ga­be für die gan­ze Gesell­schaft; und sie wird sich nur lösen las­sen, wenn wir alle den Mut auf­brin­gen, mit einem gan­zen Kanon lieb­ge­won­ne­ner Kon­zep­te zu bre­chen und eine Rei­he von Tabus anzu­ge­hen. Es beginnt in den Kin­der­gär­ten und Schu­len, deren päd­ago­gi­sche Ideo­lo­gie der „Herr­schafts­frei­heit“ einer drin­gen­den Revi­si­on bedarf. Die seit Jah­ren betrie­be­ne tota­le Eli­mi­nie­rung von Befehl und Gehor­sam aus der Erzie­hung unter­höhlt die demo­kra­ti­sche Kul­tur, anstatt sie zu beför­dern. Denn eine Demo­kra­tie braucht dis­zi­pli­nier­te Bür­ge­rin­nen und Bür­ger, die sich selbst beherr­schen und gehor­chen kön­nen – was sie aber nicht ler­nen wer­den, wenn Macht und Herr­schaft als „pfui bäh“ tabui­siert und dem unre­flek­tier­ten Gelüs­ten der Rech­ten über­las­sen werden.
Wei­ter geht es nach der Schu­le. Die unse­rer Demo­kra­tie am wenigs­ten zuträg­li­che gesetz­ge­be­ri­sche Maß­nah­me der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit war die Abschaf­fung des Zivil- und Wehr­diens­tes. Man muss nicht Nietz­sche bemü­hen, son­dern nur ein wenig eige­ne Men­schen­kennt­nis oder Erin­ne­rung an die Zeit der all­ge­mei­nen Wehr- und Zivil­dienst­pflicht in Deutsch­land, um zu begrei­fen, wie gut es jun­gen Män­ner tat bzw. tut (und das glei­che gilt für jun­ge Frau­en), sich eine Zeit­span­ne ihres Lebens in den Dienst des Gemein­we­sens stel­len zu dür­fen. Denn es ist tat­säch­lich für die Ent­wick­lung eines jun­gen Men­schen wich­tig, etwas Grö­ße­rem zu die­nen: der Gemein­schaft, der er ange­hört. Ande­ren­falls näm­lich wird sich sein Ego auf­blä­hen und aus Man­gel an Selbst­be­herr­schung nur noch autis­tisch sei­nem eige­nen Vor­teil hul­di­gen und mit Nietz­sches Nihi­lis­ten der Paro­le fol­gen: „Man hat sein Lüst­chen für den Tag und sein Lüst­chen für die Nacht; aber man ehrt die Gesundheit.“
So gese­hen ist es wirk­lich der ers­te für die sozia­le Hygie­ne unse­res Lan­des wirk­lich ziel­füh­ren­de Vor­schlag seit lan­gem, wenn Frau Kramp-Kar­ren­bau­er unlängst für die Ein­rich­tung eines Bür­ger­pflicht­diens­tes plä­dier­te. Auch wenn sie selbst eher öko­no­mi­sche Moti­ve dafür ins Feld führ­te und offen­bar nicht ahnt, dass sie mit ihrer Anre­gung ein pro­ba­tes Mit­tel gegen den Spuk von Rechts ins Feld führ­te, wäre die Bun­des­re­gie­rung gut bera­ten, die­sen Vor­stoß auf­zu­neh­men – wenn man denn nur den Mut auf­bräch­te, ein­mal wie­der zu regie­ren, zu befeh­len, zu ver­pflich­ten, Macht auszuüben.
Womit wir neben der Erzie­hung zur Dis­zi­plin des Sich-selbst-Befeh­lens und Gehor­chens und dem ver­pflich­ten­den Bür­ger­dienst zum Woh­le des Gemein­we­sens eine drit­te Maß­nah­me erken­nen kön­nen, die wir brau­chen, um den Spuk des rech­ten Schreck­ge­spens­tes zu ban­nen: den Rück­zug von Ange­la Mer­kel, um einer neu­en, muti­gen Regie­rung Platz zu machen, die von der ihr über­tra­ge­nen Macht Gebrauch macht, anstatt sie zu ver­wäs­sern und zu delegieren.
Dass dies nicht unmög­lich ist, hat Ange­la Mer­kels Vor­gän­ger Ger­hard Schrö­der bewie­sen. Man mag über ihn den­ken, was man will: Dass er Hartz IV durch­setz­te, zeugt alle­mal davon, dass er nicht nur einen gesun­den Wil­len zur Macht, son­dern auch den dazu­ge­hö­ri­gen Mut zum Befeh­len und zur Ver­ant­wor­tung besaß; und das mit einer Kon­se­quenz, die Nietz­sche klar benann­te: „Sei­nem eige­nen Geset­ze muss“ der Mäch­ti­ge „Rich­ter und Rächer und Opfer wer­den“. Vor die­ser Ver­ant­wor­tung nicht zurück­zu­schre­cken, zeich­net einen Poli­ti­ker aus. Sich auf Alter­na­tiv­lo­sig­keit zu beru­fen, ist hin­ge­gen eine Per­ver­si­on der Regie­ren­den, die die beschrie­be­ne rech­te Per­ver­si­on der Regier­ten nährt und för­dert. Anders gesagt: Der Nihi­lis­mus der neu­en Rech­ten ist nur die ande­re, dunk­le Sei­te des Nihi­lis­mus der Ber­li­ner Politik.
Wir haben ein Pro­blem mit der Macht. Das kön­nen wir von Nietz­sche ler­nen. Die­ses Pro­blem ver­gif­tet unse­re Gesell­schaft. Es ist ein poli­ti­sches Pro­blem, aber nicht nur das: Es ist ein Pro­blem, das die Gesell­schaft im Gan­zen betrifft. Allein auf poli­ti­schem Wege wird es sich nicht lösen las­sen, auch wenn es in der Sphä­re des Poli­ti­schen am deut­lichs­ten sicht­bar wird. Denn die­se Sphä­re ist es, die sich die Gesell­schaft bewusst geschaf­fen hat, um das mensch­lich-all­zu­mensch­li­che Spiel von Macht und Befehl, Dienst und Gehor­sam zu kul­ti­vie­ren, zu regeln und gesund zu organisieren.
Bei Lich­te bese­hen aber wal­tet die­se Dyna­mik nicht allein im Feld der Poli­tik, son­dern in nach­ge­ra­de allen Berei­chen des Lebens. Und das Ver­sa­gen der heu­ti­gen Regie­ren­den in Sachen Mut und Wil­len zur Macht wiegt umso gra­vie­ren­der, als auch in den ande­ren Dimen­sio­nen unse­res Lebens das einst­mals funk­tio­nie­ren­de Wech­sel­spiel von Dienst und Herr­schaft nicht mehr greift. Hier frei­lich rüh­ren wir an eines der gewal­tigs­ten Tabus unse­rer Gesell­schaft. Hier hat man Angst vor der eige­nen Cou­ra­ge, wenn man sei­ne schlim­men Gedan­ken aus­spricht. Doch wie schon Nietz­sche sag­te: „Reden wir nur davon, ihr Wei­ses­ten, ob es gleich schlimm ist. Schwei­gen ist schlim­mer; alle ver­schwie­ge­nen Wahr­hei­ten wer­den giftig.“
Wovon müs­sen wir reden? Vom Geschlech­ter­ver­hält­nis – dem womög­lich mäch­tigs­ten Trei­ber der neu­en Rech­ten. Denn eben hier ist das tra­di­tio­nel­le kul­tu­rel­le Macht­ge­fü­ge am gründ­lichs­ten besei­tigt wor­den. Eben hier gähnt das Vaku­um der Macht am mäch­tigs­ten. Erin­nern wir uns: Einst war das Ver­hält­nis von Mann und Frau von Macht durch­wirkt: Der Mann galt öffent­lich als Herr, die Frau als sei­ne Unter­ge­be­ne. Gleich­zei­tig aber stand der Mann im Dienst der Frau und unter­grün­dig herrsch­te sie über sein Tun. Kul­tu­rell so zube­rei­tet konn­te der – wenn Nietz­sche Recht hat – schon allein auf Grund der phy­sio­lo­gi­schen Ver­fas­sung des Men­schen unab­ding­bar die Men­schen­see­le durch­drin­gen­de Wil­le zur Macht gelebt und leid­lich unschäd­lich gemacht werden.
Heu­te – infol­ge der gro­ßen Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gung des zwan­zigs­ten Jahr­hun­derts – ist das The­ma Macht aus Part­ner­schaf­ten kom­plett ver­bannt wor­den. Das Geschlech­ter­ver­hält­nis gilt als der Ort per se, an dem Macht und Dienst nichts ver­lo­ren haben – auch wenn der über­wäl­ti­gen­de Erfolg des Romans „Shades of Grey“ über­deut­lich zu erken­nen gibt, wie groß die Sehn­sucht, aus­ge­rech­net vie­ler Frau­en aus­ge­rech­net nach Unter­wer­fung und Befehl in der Tie­fe ihre See­le ist. Macht zu leug­nen ist zwar gut gemeint und auch aus Sicht der Indi­vi­du­en ver­ständ­lich; doch es ist ver­häng­nis­voll für das Wohl­erge­hen unse­rer Gesell­schaft: denn hier gilt das glei­che, wie in Poli­tik und in  Erzie­hung: Wird der Wil­le zur Macht negiert und nicht bewusst gelebt bzw. kul­ti­viert, dann tritt er ver­gif­tet an ande­rer Stel­le macht­voll zuta­ge. In Chem­nitz zum Bei­spiel. Es ist wohl kein Zufall, dass es mehr­heit­lich Män­ner sind, die dort ihre Paro­len grö­len. Nicht weil Män­ner per se gewalt­tä­tig oder blöd wären, son­dern weil sie es sind, denen die herr­schen­de Moral den Wil­len zur Macht am gründ­lichs­ten aus­trei­ben möch­te. Man den­ke an den Dres­de­ner Hut-Bür­ger und begrei­fe: Ent­mann­te Män­ner sind die trei­ben­de Kraft der neu­en Rech­ten – dicht gefolgt von ent­weib­lich­ten Frau­en a la von Storch oder Weigel.
Aber viel­leicht ist das ja alles gar nicht wahr. Viel­leicht sind wir ja auf der fal­schen Spur, wenn wir pro­be­wei­se Nietz­sches Psy­cho­lo­gie des Wil­lens zur Macht zu Rate zogen, um die neue Rech­te und den Spuk von Chem­nitz zu ver­ste­hen. Viel­leicht war Nietz­sche ja im Irr­tum, und im Herz des Lebens wohnt gar nicht der Wil­le zur Macht, son­dern etwas viel Schö­ne­res wie der Wil­le zur Lie­be oder zur Koope­ra­ti­on. Dafür spricht vie­les, aber lei­der ändert das nichts dar­an, dass der Mensch der Neu­zeit lan­ge schon so lebt, dass er in sei­ner See­le kei­nen ande­ren Trei­ber mehr fin­det als den Drang zur Macht und Selbstbehauptung.
Auch das hat sei­ne Grün­de, die wohl nie­mand so klar gese­hen wie Nietz­sche selbst. Er brach­te sie auf die prä­gnan­te For­mel: „Gott ist tot“ – eine For­mel, die sich über­set­zen lässt, indem man sagt: Dass Gott dem Men­schen der Moder­ne starb, liegt und zeigt sich dar­an, dass er die Rück­bin­dung an das Hei­li­ge Sein die­ser Welt ver­lo­ren hat: die re-ligio, die ihn einst­mals in den Dienst nahm – in den Dienst am Leben; die den Men­schen einst­mals dazu brach­te, in Mythos und Kult das Leben zu fei­ern und sei­nen Impe­ra­ti­ven zu gehor­chen. Das war frei­lich lan­ge bevor die Reli­gio­nen zu Insti­tu­tio­nen wur­den und der Wil­le zur Macht sich ihrer bemäch­tig­te; als siche­res Indiz dafür, dass schon damals in den Kir­chen, Tem­peln und Moscheen Gott gestor­ben war.
Am Ende ist es wohl das Feh­len jeder Reli­gio­si­tät – im Sin­ne die­ser Rück­bin­dung an die Leben­dig­keit und an das Sein der Welt – was jene Per­ver­si­on, jenen Gespens­ter­tanz von Chem­nitz mög­lich macht. Und des­halb geht es hier ums Gan­ze unse­rer Zivi­li­sa­ti­on und längst nicht nur um Gut und Böse. Des­halb wird durch mora­li­sche Appel­le und Gegen­de­mons­tra­tio­nen allein nichts bes­ser wer­den. Des­halb hilft allein das tabu­lo­se und vor­ur­teils­freie Den­ken wei­ter. Das ist erschüt­ternd, ohne Fra­ge, aber reden wir gleich­wohl dar­über, „ob es gleich schlimm ist. Schwei­gen ist schlim­mer; alle ver­schwie­ge­nen Wahr­hei­ten wer­den giftig.“