Der Niedergang des öffentlichen Raumes

Die Vor­fäl­le ver­ra­ten ein gesell­schaft­li­ches Problem
Oh, wie die Debat­te zäh ist! Schuld­zu­wei­sun­gen von rechts nach links, von links nach rechts. Opfer wer­den Täter, Täter wer­den Opfer. Jeder redet mit und tischt die alten Dog­men auf: Femi­nis­ten und Faschis­ten, Poli­ti­ker und Päd­ago­gen, Frem­den­freun­de, Frem­den­fein­de. Alle sehen sich bestä­tigt, alle ken­nen ihre Fein­de. Alle wis­sen, wer an allem schuld ist. Und der Schwar­ze Peter wan­dert um den Köl­ner Dom her­um. Welch’ bedrü­cken­des Spek­ta­kel, das mehr als die Vor­fäl­le selbst den bekla­gens­wer­ten Zustand unse­rer Gesell­schaft spiegelt!
Was in der Sil­ves­ter­nacht wirk­lich geschah, habe ich noch nicht erfah­ren. Zuwe­nig ist bekannt über die Vor­fäl­le: die Täter und die Opfer, die Zeu­gen und die Ein­satz­kräf­te. Kein Kom­men­tar ist mir hier mög­lich. Wohl aber, was die Reak­tio­nen und den Wir­bel angeht, der nun in unse­rem Land ent­facht ist. Und dort ver­mis­se ich den wachen Blick, der wei­ter reicht als bis zu den übli­chen Ver­däch­ti­gen; der tie­fer dringt als zu den alten Dogmen. 
Mehr Kame­ras genü­gen nicht
Die Vor­fäl­le von Köln zei­gen zunächst eines: Der öffent­li­che Raum ist in Gefahr. Wenn es gefähr­lich wird, allein als Frau – oder als Mann, gleich­viel – in der Sil­ves­ter­nacht den Bahn­hofs­vor­platz zu durch­que­ren, dann stimmt etwas nicht mehr: Dann stimmt etwas nicht mehr, das nicht allein durch mehr Kame­ras und mehr Ein­satz­kräf­te repa­riert wer­den kann. Dann stimmt etwas in den Köp­fen und Her­zen derer nicht, die die­sen öffent­li­chen Raum mit­ein­an­der tei­len. Dann ist das ein Indiz dafür, dass der poli­ti­sche Raum im Den­ken und Füh­len ver­kom­men ist. Und das ist ein Pro­blem, das von weit­her rührt und nicht erst seit ges­tern zu beob­ach­ten ist.
Was ist der öffent­li­che Raum? Was ist der Raum des Poli­ti­schen? Er ist der Raum der Begeg­nung – ein Raum, in dem wir ande­ren begeg­nen. Begeg­nen, das ist mehr als bloß Geschäf­te machen. Der öffent­li­che Raum ist mehr als nur ein Markt­platz. Begeg­nen ist auch mehr als sich den ande­ren zei­gen. Der öffent­li­che Raum ist mehr als eine Büh­ne für die Selbst­dar­stel­lung und Kon­sum. Er ist der Raum, wor­in sich Men­schen frei bewe­gen kön­nen, wo sie sich als Per­so­nen tref­fen kön­nen, ohne damit rech­nen zu müs­sen, als Kun­den, Zuschau­er oder Ver­brau­cher miss­braucht zu wer­den. Der öffent­li­che Raum wird allent­hal­ben miss­braucht – eben­so wie die Men­schen in ihm, »Täter« und »Opfer« glei­cher­ma­ßen. In Wahr­heit sind die­se Kate­go­rien gänz­lich unan­ge­mes­sen für das, wor­um es hier tat­säch­lich geht: um ein gra­vie­ren­des kul­tu­rel­les Pro­blem, um den Nie­der­gang des Gemeinsinns.
Alles ist warenförmig
Wir haben eine Welt geschaf­fen, in der ein jeder um sich sel­ber kreist und danach fragt, wie er für sich am meis­ten raus­ho­len kann. »Das, was du willst, das kannst du haben«, so schreit es von den Wer­be­flä­chen, »du musst nur auf dem Markt bestehen, musst gut sein, musst dich zei­gen! Mache dich zur Ware und dir steht die Welt der Waren offen.« Alles wird waren­för­mig, wird ver­füg­bar. Alles ist zu haben, alles ist zu wol­len. So miss­ver­ste­hen wir das gro­ße Wort der »Frei­heit«, das in die­sen Tagen gern gespro­chen wird.
Der Preis, den wir dafür bezah­len, sind Ver­bind­lich­keit und Zuge­hö­rig­keit; ist das Poli­ti­sche. Wo es nur dar­um geht, als Ware unter Waren zu bestehen und kon­kur­renz­fä­hig zu blei­ben, erscheint uns nie­mand mehr als »Du«, wie Mar­tin Buber sag­te. Wir sehen uns umge­ben von Objek­ten, die wir nut­zen und gebrau­chen kön­nen, wie es uns gefällt. Wir sel­ber machen uns zu Objek­ten, die ihre Erfül­lung dar­in fin­den, bei hohem Pro­fit gebraucht und kon­su­miert zu wer­den – oder mög­lichst güns­tig ande­re Objek­te zu kon­su­mie­ren und zu ver­brau­chen: egal ob vega­ne Kost oder Por­nos, egal ob Men­schen oder Infor­ma­tio­nen. Wir sind Ver­brau­cher – und wir machen Selfies.
Was geht mich das an?
Ein sol­ches »Leben« aber kann nur füh­ren, wer sich ver­kap­selt: wer sich abkop­pelt von der Gemein­schaft, kei­ne Ver­bin­dun­gen mehr ein­geht, kei­ne Ver­bind­lich­kei­ten mehr zulässt, unbe­rühr­bar wird und des­sen Man­tra lau­tet »Was geht mich das an?« Wenn aber ande­re und ande­res einen nichts mehr ange­hen, ver­fällt der öffent­li­che Raum zu Markt und Büh­ne, die man nut­zen kann – dann hört er auf, der Ort zu sein an dem einem Per­so­nen als ein Du begeg­nen. In einem sol­chen Raum kann nur bestehen, wer schon durch Kon­su­mis­mus und Ego­zen­tris­mus vor­for­ma­tiert und bes­ser defor­miert ist. Hier kann man nur noch leben, wenn einen der Rest nichts angeht; wenn man sei­ne Sel­fies macht und sich auch sonst in »Frei­heit« selbst besorgt, was man gern haben und ver­brau­chen will.
Wie aber geht es Men­schen, die die Spiel­re­geln nicht ken­nen? Wie geht es sol­chen, die es nicht gelernt haben, das bin­dungs­los Spiel der Ele­men­tar­teil­chen mit­zu­spie­len? Die Ernst machen mit der all­ge­gen­wär­ti­gen Ver­hei­ßung, der öffent­li­che Raum sei ein Markt­platz, auf dem man Waren kon­su­mie­ren kann – und die sich die­se Waren rau­ben, wenn sie sonst nicht an sie kom­men? Sind die­se Men­schen nicht ein Spie­gel, der uns vor­ge­hal­ten wird – ein Spie­gel der uns zei­gen kann, wozu wir uns und unse­ren öffent­li­chen Raum gemacht haben?
Es gibt kein Wir mehr
Die Vor­gän­ge von Köln leh­ren vor allem eines: Wir haben es ver­säumt, unse­re Kul­tur zu pfle­gen. Wir haben es ver­säumt, uns als Tei­le eines Gemein­we­sens zu betrach­ten, die für den Bestand des öffent­li­chen Rau­mes und der Kul­tur ech­ter Begeg­nung von Ich zu Du ver­ant­wort­lich sind. Anstel­le einer Gesell­schaft, der man die­nen könn­te und müss­te, ist da ein Heer von Ele­men­tar­teil­chen, die sich bedie­nen und derer man glaubt, sich bedie­nen zu kön­nen. Wir haben es zuge­las­sen, das unse­re Gesell­schaft aus­ein­an­der­fällt – so dass da kein in sich stim­mi­ges Gan­zes mehr ist, das eine Mil­li­on Flücht­lin­ge in sich auf­neh­men könn­te. Das Dra­ma lässt sich auf die For­mel brin­gen: Es gibt kein Wir mehr, das das schaf­fen könnte.
Das ist die eigent­li­che Patho­lo­gie, deren Sym­pto­me in der Sil­ves­ter­nacht erkenn­bar wur­den. Sie zu kurie­ren, ist die Auf­ga­be, vor der wir alle ste­hen. Sie zu bewäl­ti­gen, erfor­dert viel Geduld und ein radi­ka­les Umden­ken. Wir müs­sen wie­der ler­nen, das Poli­ti­sche zu pfle­gen. Und da die wenigs­ten noch wis­sen, was das ist, ist es die Pflicht des Staa­tes, sei­ne Bür­ger dar­in aus­zu­bil­den. Nur eine sol­che Pflicht wird unse­re Frei­heit ret­ten: die wah­re Frei­heit, die aus mehr besteht als aus dem fau­len Spiel, mit nichts und nie­man­dem ver­bun­den zu sein und nichts Ver­bind­li­ches zu akzep­tie­ren. Das Gemein­we­sen ist das Ver­bind­li­che und es steht ihm zu, das dar­in zu bekun­den, dass es sei­ne Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in die Pflicht nimmt. Wir brau­chen einen Bür­ger­dienst für alle – für Ein­woh­ner und Zuwan­de­rer – bei dem wir wie­der prak­tisch ein­üben und ler­nen, was wir wirk­lich sind: Wesen der Ver­bun­den­heit, zoon poli­ti­kon, wie Aris­to­te­les schon wusste.
(Chris­toph Quarch, Ful­da 12.1.2016)