Der Gipfel der Ironie

Was uns die documenta 14 von Athen tatsächlich lernen lässt

Es ist der gro­ße Stolz der docu­men­ta, dass sie sich nicht damit beschei­det, Kunst zu zei­gen oder aus­zu­stel­len. Sie will selbst ein Kunst­werk sein, denn sie selbst hat sich der Logik der moder­nen Kunst ver­schrie­ben. Von daher lässt sich leicht erklä­ren, dass sie von jenem Geist durch­drun­gen ist, der die avant­gar­dis­ti­sche Kunst der Gegen­wart von jeher bewegt und sich in immer neu­en Vari­an­ten mit­teilt: vom Geist der Ironie.
Dass Kunst, die ihres Namens wür­dig ist, iro­nisch sei, hat­te – so weit man sehen kann – als ers­ter Fried­rich Schle­gel dekla­miert. Mag es auch erstaun­lich klin­gen: Kein ande­rer als er, der Grün­der­va­ter der Roman­tik ist der eigent­li­che Initia­tor einer geis­ti­gen Dyna­mik, in deren Fol­ge zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts der Avant­gar­dis­mus zur alles beherr­schen­den For­ma­ti­on der Kunst geriet. Denn all die Künst­ler, die sich als Avant­gar­de ver­stan­den, setz­ten getreu­lich um, was Schle­gel in sei­nen Athe­nä­ums-Frag­men­ten als das Pro­gramm der Iro­nie beschrie­ben hat­te: den ste­ten Wech­sel aus Selbst­schöp­fung und Selbst­ver­nich­tung, das ste­te Negie­ren der eige­nen Form, die fort­wäh­ren­de Dekon­struk­ti­on des eige­nen Werks.

Einspruch gegen die Entzauberung

Die Iro­nie, die Schle­gel pro­gram­ma­tisch aller pro­gres­si­ven Kunst in Herz und Hirn imple­men­tie­ren woll­te und – on the long run – tat­säch­lich imple­men­tier­te, war ihm der Königs­weg zur Unver­ständ­lich­keit. Denn unver­ständ­lich soll­te alle Kunst sein, um die glat­te Ober­flä­che zu zer­trüm­mern, die Wis­sen­schaft und Ratio­na­li­tät der Welt und allen Din­gen auf­ge­zwun­gen hat­te. Als Wider­spruch zu dem, was Georg Fos­ter die »Tyran­nei der Ver­nunft« nann­te, als Ein­wand gegen die ratio­na­le Ent­zau­be­rung der Welt, ernann­te Schle­gel die Kunst zu jenem gro­ßen Spiel der Unver­ständ­lich­keit, bei dem sie sich mit jedem ihrer Wer­ke selbst zurück­nimmt und verneint.
Als gro­ßes Fest der Unver­ständ­lich­keit und Iro­nie zele­briert sich auch die docu­men­ta 14. Nichts ver­rät die­sen Vor­satz so deut­lich wie ihr Mot­to »Ler­nen von Athen«. Man kann die For­mu­lie­rung nur begrei­fen, wenn man sie als Genie­streich ent­fes­sel­ter Iro­nie deu­tet; ganz so, wie ihr künst­le­ri­scher Lei­ter Adam Szymc­zyk (frei­lich gänz­lich uniro­nisch) zu ver­ste­hen gibt, wenn er bemerkt, »Ler­nen von Athenq müs­se zunächst »Ent­ler­nen« hei­ßen, »um sich der Welt unvor­ein­ge­nom­men nähern zu können«.

Dekonstruktion des Lernens

Die Iro­nie, die hier zu Wort kommt, ist ein dop­pel­te, wenn nicht drei­fa­che: In Wahr­heit geht es nicht um Ler­nen, son­dern um das gera­de Gegen­teil. Es geht um Destruk­ti­on, Dekon­struk­ti­on des Ler­nens. Und das nun aus­ge­rech­net »von Athen«. Athen, das ist für jeden, der ein biss­chen Bil­dung hat, die Chif­fre für den Gegen­stand des Ler­nens par excel­lence: der Dreh- und Angel­punkt des­sen, was man einst huma­nis­ti­sche Bil­dung nann­te. Athen, das sind Kleis­the­nes und Solon, die Grün­der­vä­ter der Demo­kra­tie; das sind Sokra­tes und Pla­ton, die Grün­der­vä­ter der Phi­lo­so­phie; das sind Aischy­los, Euri­pi­des und Sopho­kles, die Meis­ter der Tra­gö­die. Die Lis­te ist erwei­ter­bar. Athen steht für den Ursprung der abend­län­di­schen Kultur.
Das alles aber will die docu­men­ta uns ent­ler­nen machen, damit wir uns der Welt unvor­ein­ge­nom­men zuwen­den kön­nen. Einen iro­ni­sche­ren Titel als »Ler­nen von Athen« hät­te man dafür nicht fin­den kön­nen. Es ist die per­fek­te For­mel für einen iro­ni­schen Abge­sang auf die west­li­che Kul­tur, die hier auf dem Altar der Unvor­ein­ge­nom­men­heit geop­fert wird. Damit jedoch erklimmt die Iro­nie der docu­men­ta ihren höchs­ten Gip­fel: Sie selbst erschafft sich einen neu­en Fetisch, dem sie hul­digt. So sehr ist sie vor­ein­ge­nom­men von der Unvor­ein­ge­nom­men­heit, dass ihre Iro­nie sich unver­se­hens in ihr Gegen­teil ver­kehrt und zum Zynis­mus wird.

Ein falsches Spiel

Die Iro­nie, die Schle­gel fei­er­te, soll­te ein Spiel sein. Ein Spiel, das – wie er sag­te – eine »fer­ne Nach­bil­dung von dem unend­li­chen Spie­le der Welt« sein soll­te, »dem ewig sich selbst bil­den­den Kunst­werk«. Das Spiel der Kunst, so die Poin­te, stand dabei ganz im Diens­te der Leben­dig­keit. Es soll­te alle, die sich als Künst­ler und Zuschau­er dar­an betei­lig­ten, in einen höhe­ren und tie­fe­ren, in einen inten­si­ve­ren Zustand des Lebens ver­set­zen, das Füh­len und Emp­fin­den frei­set­zen und so die Rebel­li­on gegen die Tyran­nei der Ver­nunft anzet­teln. Die Iro­nie der docu­men­ta scheint jedoch die Rück­bin­dung an die Leben­dig­keit der Men­schen auf­zu­ge­ben. Sie steht im Dienst von nichts und nie­man­den – und eben dar­in ist zu jener zyni­schen Form der Iro­nie, von der Giam­bat­tis­ta Vico sag­te, dass sie »kraft einer Refle­xi­on, die die Mas­ke der Wahr­heit annimmt, aus dem Fal­schen gebil­det ist«.
Dass es auch anders geht und Iro­nie sich nicht zum zynisch-fal­schen Mas­ken­spiel ver­frem­den muss, hät­ten die Macher der docu­men­ta leicht­hin sehen kön­nen. Es bräuch­te dafür nur den Mut, dem Fetisch der Unvor­ein­ge-nom­men­heit abzu­schwö­ren und von Athen zu ler­nen. Denn in Athen wur­de die Iro­nie erfun­den. Es war einer der Gro­ßen jener Stadt, der sie mit Vir­tuo­si­tät betrieb; der sie als Instru­ment der Wahr­heit und Leben­dig­keit erkann­te. Von Sokra­tes ist hier die Rede – von jenem Sokra­tes, der sprich­wört­lich iro­nisch war und dabei das erreich­te, was die docu­men­ta-Macher zwar ent­fes­seln wol­len, aber letzt­lich nicht ent­fes­seln kön­nen, weil ihr Zynis­mus sie gefan­gen hält: authen­ti­sche Lebendigkeit.

Philosophieren mit dem Hammer

Gewiss, auch Sokra­tes lieb­te das Mas­ken­spiel. »Iro­nie und Ver­stel­lung übt er sein gan­zes Leben hin­durch gegen alle Men­schen und treibt mit ihnen sein Spiel«, lässt Pla­ton einen Dia­log­part­ner über ihn sagen. Mit Grund, denn Sokra­tes lieb­te es, den Unwis­sen­den zu geben, um umso wir­kungs­vol­ler die lieb­ge­won­ne­nen Denk­ge­wohn­hei­ten und Vor­ein­ge­nom­men­hei­ten sei­ner Zeit­ge­nos­sen zu zer­trüm­mern. Er war durch­aus, was Nietz­sche ger­ne für sich rekla­mier­te: ein Phi­lo­soph mit dem Ham­mer. Doch der Ham­mer, den er schwang, dien­te dazu, Erstarr­tes auf­zu­bre­chen, Totes zu bele­ben. Der Ham­mer sei­ner Dia­log­kunst glich dem Stab des Moses, der aus dem toten Fel­sen das Was­ser des Lebens spru­deln ließ.
Das iro­ni­sche Mas­ken­spiel des Sokra­tes stand stets im Dienst des unver­stell­ten Lebens. Die Mas­ke, die er dabei trug, war jedoch kei­ne Mas­ke, son­dern – iro­ni­scher Wei­se – sein gänz­lich unmas­kier­ter Leib, – der sei­nen Zeit­ge­nos­sen aller­dings eine Mas­ke zu sein schien, erin­ner­te er doch an die aus dem Mas­ken­spiel der alten Welt bekann­ten Satyrn und Sile­ne. In sei­nem Gast­mahl lässt Pla­ton (auch ein Athe­ner) den Alki­bia­des (einen Athe­ner) den Sokra­tes wie folgt beschrei­ben: »Ich behaup­te näm­lich, dass er ganz ähn­lich jenen Sile­nen sei, wel­che man in den Werk­stät­ten der Bild­hau­er fin­det, wenn man sie aber nach bei­den Sei­ten hin aus­ein­an­der­nimmt, dann zeigt es sich, dass sie Göt­ter­bil­der ein­schlie­ßen.« Womit gesagt ist, dass das Mas­ken­spiel des Sokra­tes in Wahr­heit gar nichts ande­res ist, als Dienst der Göt­ter: und zwar jener grie­chi­schen Göt­ter, die nichts ande­res sind als zu höchs­ter Inten­si­tät ver­dich­te­te Lebendigkeit.

Der Gott der Maske

Dabei ist klar, in wes­sen Dienst die Iro­nie des Sokra­tes gestellt ist: Sie steht im Dienst des Got­tes der Mas­ke, des Got­tes, dem ein jeder Silen zuge­hör­te: Dio­ny­sos, der Gott des Rau­sches, der in Trun­ken­heit und Wahn­sinn sei­ne Wahr­heit offen­bart. Wozu vor­züg­lich passt, dass Alki­bia­des sein wah­res, demas­kie­ren­des Bild des Sokra­tes im Voll­rausch vor­trägt: Das ech­te, unge­trüb­te Leben – so die Wahr­heit des Dio­ny­sos – bedarf zuwei­len der rausch­haf­ten Zer­trüm­me­rung der fal­schen Ord­nung: der Ord­nun­gen, die zwar dem Leben Sta­bi­li­tät, Sicher­heit, Behag­lich­keit und Wohl­stand geben, dafür jedoch den Preis ech­ter, leib­haf­ti­ger Leben­dig­keit fordern.
Leben zu ent­fes­seln, ist das Werk der wah­ren Iro­nie, die nie­mals zynisch ist. Die ech­te Iro­nie ist spie­le­risch, nicht ernst oder mora­lisch. Sie will nichts ande­res als nur das Leben: und zwar das Leben so, wie es nun ein­mal ist: in sich gebro­chen, wider­sprüch­lich, tra­gisch. Womit wir end­lich da sind, wo es für die Men­schen der Moder­ne am meis­ten von Athen zu ler­nen gäbe: bei der atti­schen Tra­gö­die. Sie ist das groß­ar­tigs­te Ver­mächt­nis des alten Athen; und das, was der Welt von heu­te am meis­ten fehlt. Denn die Tra­gö­die war gänz­lich uniro­nisch – und zeig­te doch das ech­te, unver­stell­te Leben ohne irgend­et­was zu ver­klä­ren oder zu beschönigen.

Tragödie statt Ironie

Die Tra­gö­die führ­te den Athe­nern die Ver­gäng­lich­keit vor Augen. Sie über­führ­te alle Selbst­si­cher­heit und Hybris der Lüge. Sie durch­kreuz­te den Zynis­mus. Denn ihre Bot­schaft war erschüt­ternd: Leben heißt Ster­ben. Leben ist para­dox, wider­sprüch­lich. Leben ist aus Leid und Glück gemischt. Und gera­de dar­in ist es hei­lig. Und eben die­se Hei­lig­keit ver­bürgt der Dionysos.
Die Tra­gö­die der Athe­ner reich­te tie­fer als jede Iro­nie. Denn ihr Spiel genüg­te jenem Anspruch, den Schle­gel an die Kunst erhob: eine »fer­ne Nach­bil­dung von dem unend­li­chen Spie­le der Welt« zu sein. Das Spiel der Kunst muss tra­gisch sein, weil die Welt leben­dig, und die Leben­dig­keit selbst tra­gisch ist. Das aber wei­gert sich der Mensch der Gegen­wart zu akzep­tie­ren. So flüch­tet er sich in Zynis­mus – eine Iro­nie, die den Dienst an der Leben­dig­keit quit­tiert hat, weil sie kei­ne Göt­ter mehr zu offen­ba­ren wagt. Und eben das ist die Tra­gö­die der Kunst der Gegenwart.
Man kann von ihr nichts Bes­se­res bekun­den. Es ist kein Zufall, dass die docu­men­ta als wich­tigs­te Kunst­schau in die­sem Jahr am Orte der Tra­gö­die begon­nen hat: in Athen, von dem sich immer­hin doch die­ses ler­nen lässt: Die Fei­er der Iro­nie gerät der Gegen­warts­kunst selbst zur Tra­gö­die – und eben dar­in liegt das eigent­li­che, wenn auch unbe­ab­sich­tig­te Ver­dienst der docu­men­ta 14. Dio­ny­sos ist wie­der da.