Dem Menschsein dienen. Wie wir den Schlächtern der Humanität begegnen sollten
Die Würde des Menschen ist unantastbar. So sagt es unser Grundgesetz. Und es hat Recht.
Die Würde des Menschen wird verletzt. So sagt es ein nüchterner Blick in die Welt. Und das tut weh.
In Paris ist am 13. November die Würde des Menschen verletzt worden – obwohl sie unantastbar ist. Und das kann man nicht dulden.
Es ist eines Menschen nicht würdig, blindlings abgeschlachtet zu werden. Wer wahllos andere Menschen tötet, achtet deren Würde nicht: er sieht sie nicht als Person, er sieht sie nicht als Mensch, er sieht sie nur als Objekt seiner Mordabsicht. Wer solches tut, achtet die Menschenwürde nicht, er verachtet sie. Er tastet sie an. Er verhöhnt sie. Wer die Würde des anderen antastet, verhöhnt und verachtet, erweist sich als unwürdig.
Ein Mensch zu sein ist ein Geschenk, dessen man sich würdig erweisen kann und darf. Darin besteht unsere Würde. Wer das nicht will, erweist sich dieses Geschenkes als unwürdig. Er verdient der Namen „Mensch“ nicht. Damit ist ihm seine Würde als Mensch nicht abgesprochen. Auch nicht sein Menschsein. Er soll von Menschen als Mensch behandelt werden. Aber er hat sich den Namen „Mensch“ nicht verdient.
Wer sich an dieser Formulierung stört, muss sich fragen lassen, was ihm der Name „Mensch“ bedeutet. Für mich ist Mensch nicht ein bloßes Sein, sondern eine Qualität– eine Qualität, die zu entfalten bedeutet, sich des Geschenks des Menschseins würdig zu erweisen. Für mich gibt es so etwas, wie das Wesen des Menschen, dem gemäß zu leben bedeutet, sich seiner Würde würdig zu erweisen. Für mich gibt es so etwas wie die Humanität, die zu schlachten bedeutet, sich seines Menschseins unwürdig zu erweisen. Für mich erfüllt sich die Humanität darin, dass wir lieben, spielen, handeln, lachen, weinen, tanzen, hoffen, denken, vertrauen, reden…: dass wir uns mit anderen verbinden, einander begegnen, uns zeigen und tätig sind. Für mich zeigt sich die Würde des Menschen da, wo er sich in den Dienst des Lebens stellt und mit anderen Gerechtigkeit, Schönheit, Weisheit und Güte zur Welt bringt. Wer sich in den Dienst des Todes stellt und Unrecht, Hass und Torheit sät, schlachtet die Humanität, verdient den Namen „Mensch“ nicht.
Ich glaube: Wir dürfen nicht der nihilistischen Versuchung erliegen, den Begriff „Mensch“ von seiner Wertigkeit abzukoppeln. Menschlichkeit ist eine Tugend, die nicht schon dadurch erfüllt ist, dass man geboren ist. Menschlichkeit ist das, um dessentwillen wir da sind. Sie gilt es zu entfalten. Die Würde des Menschen liegt darin, dass er Mensch sein darf und kann.
Daran sollte uns der 13. November erinnern. Daran muss er uns erinnern. Denn seien wir ehrlich: Wir haben uns auch nicht immer unseres Menschseins würdig erwiesen – haben uns auch von nihilistischen Verführungen vom Wege abbringen lassen. Die Menschlichkeit ist nicht nur vom Terror bedroht, sondern nicht minder von unserem eigenen Hedonismus, Ökonomismus und Egoismus. Wir haben verlernt, dass Leben immer auch Dienst ist: Dienst am Leben und Dienst am Menschen. Das zu vergegenwärtigen, scheint mir der erste Schritt, den wir tun müssen, um den Barbaren zu begegnen.
Wir müssen wieder dienen lernen: dem Menschsein, dem Leben, der Liebe, der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Würde – allen Tugenden. Dafür reicht es nicht, Werte zu deklarieren. Tugenden müssen erlernt werden – und man erlernt sie nur, indem man ihnen dient.
Mein Traum ist, dass wir Formen finden, in denen wir gemeinschaftlich dem Menschsein dienen. Mein Traum ist, dass unser europäisches Gemeinwesen sich eine Verfassung gibt, die sich zu den Tugenden und Werten unserer Kultur bekennt (durchaus in der – wie ich glaube berechtigten – Annahme, dass diese Werte und Tugenden universal gelten, weil sie dem Menschsein gemäß sind). Mein Traum ist, dass wir uns alle verpflichten, für diese Werte einzustehen.
Mein Traum ist, dass wir unsere jungen Männer und Frauen dazu verpflichten, in einem europäischen Bürgerdienst ein Jahr ihres Lebens aktiv diese Wert und Tugenden im sozialen oder ökologischen Bereich zu verrichten. Mein Traum ist, dass wir den Schlächtern der Humanität eine Wiedergeburt des europäischen Humanismus entgegenstellen.
Mein Traum ist es, dass wir alle in Europa egal ob Christen oder Muslime, Frauen oder Männer, Linke oder Rechte zu solchen werden, denen es – mit Lessings Worten – genügt, MENSCH zu heißen.
Christoph Quarch, 16.11.2015