Das Wesen der Verbundenheit

Am Anfang der Phi­lo­so­phie steht der Appell zur Selbst­er­kennt­nis. Apol­lon, der Gott der Dich­ter und Den­ker, ruft durch eine Inschrift an sei­nem Tem­pel in Del­phi jedem Men­schen zu: ERKENNE DICH SELBST! Sokra­tes (469 – 399 v. Chr.) nahm die­sen Appell ernst, und das del­phi­sche Ora­kel hielt ihn wohl des­halb für den wei­ses­ten aller Men­schen, weil er uner­müd­lich frag­te, was ein gutes Leben sei. Die Ant­wort, die er fand, besagt, gut leben heißt im Ein­klang sein: mit dem Kos­mos, mit sich selbst und mit dem, was die Grie­chen pólis nann­ten: dem Gemein­we­sen. Aris­to­te­les (384 – 312 v. Chr.) bezeich­ne­te den Men­schen folg­lich als zoón poli­ti­kón: als Wesen, das immer schon Teil einer Gemein­schaft ist. Es ist eine Kern­weis­heit jener grie­chi­schen Kul­tur, die einst die Demo­kra­tie erfand, war, dass sich wah­res Mensch­sein nur in der Ver­bun­den­heit mit ande­ren erfüllt.
Wir Kin­der der Moder­ne aber haben sie ver­ges­sen. Wir glau­ben, Mensch­sein hei­ße, sich gegen­über den ande­ren zu behaup­ten. „Mir geht nichts über mich“, sag­te nicht nur der deut­sche Phi­lo­soph Max Stir­ner (1806 – 1856), so lehr­te es auch Nietz­sche (1844 – 1900) und nach ihm eine gan­ze Heer­schar von Lebens­kunst­phi­lo­so­phen und Küchen­psy­cho­lo­gen, deren Cre­do lau­tet: „Du musst dich selbst ver­wirk­li­chen!“, „Du bist jetzt dran!“, „Du musst als ers­tes nach dir selbst schauen!“
Die­ser Nar­ziss­mus grün­det in einem Men­schen­bild, des­sen his­to­ri­sche Gene­se in die Anfän­ge der Neu­zeit zurück­reicht. Sei­ne Wur­zeln hat es in der fins­te­ren Anthro­po­lo­gie eines Tho­mas Hob­bes (eng­li­scher Phi­lo­soph, 1588 – 1679), der vor dem Hin­ter­grund der blu­ti­gen Kon­fes­si­ons­krie­ge des 16. Jahr­hun­derts mein­te, der Mensch sei eigent­lich der „Wolf des Men­schen“ – und sein Natur­zu­stand ein „Krieg aller gegen aller“.
Seit­her erlebt sich der Mensch des Wes­tens als Wesen fort­wäh­ren­der Kon­kur­renz, spä­ter schein­bar wis­sen­schaft­lich begrün­det durch Charles Dar­wins (bri­ti­scher Natur­for­scher, 1809 – 1882) Theo­rie vom evo­lu­tio­nä­ren Prin­zip des „Sur­vi­val of the fit­test“ (dt. Über­le­ben der Stärks­ten) und ethisch legi­ti­miert durch den libe­ra­lis­ti­schen Mythos des Adam Smith (schot­ti­scher Moral­phi­lo­soph, ca. 1723 – 1790), wonach der all­ge­mei­ne Wohl­stand sich von selbst ein­stellt, wenn jeder sei­nen ego­is­ti­schen Moti­ven auf dem frei­en Mark­te nach­ge­hen darf. Der Mensch von heu­te ist ein Homo oeco­no­mic­us. Wohin uns die­ses Men­schen­bild geführt hat, liegt auf der Hand: Der gesell­schaft­li­che Zusam­men­halt brö­ckelt, der Mensch mutiert zum Ele­men­tar­teil­chen, das unver­bun­den in einer ent­frem­de­ten Welt tor­kelt und dem nichts und nie­mand noch ver­bind­lich ist – ja, das sich allen­falls mit der vir­tu­el­len Schein­ver­bun­den­heit des Inter­nets oder dump­fen natio­na­len Ideo­lo­gien vom Ver­lust sei­nes wah­ren Wesens ablen­ken lässt: vom Ver­lust des zóon poli­ti­kón. So lebt der Mensch von heu­te sei­ner selbst ent­frem­det – unwe­sent­lich und flach, weil er allei­ne um sich selbst kreist und kei­ne ande­re Fra­ge zulässt als: „Was bringt mir das?“
Wir soll­ten uns dar­an erin­nern, dass Mensch­sein nicht bedeu­tet, ein selbst­be­zo­ge­nes Ego zu sein, son­dern dass ihm eine dop­pel­te Ten­denz inne­wohnt: eine Ten­denz zu Gemein­schafts­bil­dung, Ver­bun­den­heit, Mit­ein­an­der sowie eine Ten­denz zu Indi­vi­dua­li­tät, Selbst­be­kun­dung und schöp­fe­ri­scher Frei­heit. Wir sind, mit ande­ren Wor­ten, bei­des: zóon poli­ti­kón und – ansatz­wei­se – Homo oeco­no­mic­us. Damit der letz­te­re nicht wei­ter unse­re Welt zer­stört, ist es höchs­te Zeit, das zóon poli­ti­kón neu­er­lich zu würdigen.
Die moder­ne Bio­lo­gie hat Dar­wins Evo­lu­ti­ons­leh­re dahin­ge­hend erwei­tert, dass für das evo­lu­tio­nä­re Fort­kom­men nicht Kraft und Stär­ke, sondern
Inte­gra­ti­ons­fä­hig­keit, Gemein­schafts­bil­dung und Koope­ra­ti­on als ent­schei­den­de Qua­li­tä­ten gel­ten. Sich im Sin­ne von Aris­to­te­les als Wesen der Ver­bun­den­heit zu sehen, ent­spricht mit­hin unse­rer bio­lo­gi­schen Aus­stat­tung. Und nicht nur das. Es ent­spricht auch einem Grund­prin­zip des Seins, von dem die theo­re­ti­sche Phy­sik weiß: Die Iden­ti­tät eines Phä­no­mens ergibt sich aus sei­ner Bezo­gen­heit auf andere.
Die bei­den Grund­ten­den­zen unse­res Seins fin­den im dia­lo­gi­schen Gesche­hen glei­cher­ma­ßen ihre Erfül­lung: Unse­re Sehn­sucht nach Unver­wech­sel­bar­keit, unser Wunsch, sich als Indi­vi­du­um in der Welt zu zei­gen, erfüllt sich in der Begeg­nung mit ande­ren. Denn wir sind immer ein­zig­ar­ti­ge Wesen und Mit­spie­ler in grö­ße­ren sys­te­mi­schen Kon­tex­ten. Bei­des zu wis­sen, bei­dem gemäß zu leben – das ist der Weg zu einem erfüll­ten Mensch­sein: zu einem indi­vi­du­el­len zóon poli­ti­kón. Das ist die zeit­ge­mä­ße Ant­wort auf das alte Wort Apol­lons: „Erken­ne dich selbst“. (Ver­öf­fent­licht Natur­arzt 12/2018 www.natur-access.de)