Das Werte-Vakuum

Was gesche­hen muss, um den Gefähr­dern der Demo­kra­tie zu wehren

Nun ist es also pas­siert: Die AfD gewinnt deut­lich die Wahl in Thü­rin­gen und wird in Sach­sen zur zweit­stärks­ten Kraft knapp hin­ter der CDU. Und als ob das für die Demo­kra­ten alter Schu­le nicht genug wäre, kommt das BSW aus dem Stand in bei­den Län­dern auf knapp 12 bzw. 16 Pro­zent. Hät­te man sich nicht bereits men­tal dar­auf vor­be­rei­tet, könn­te man von einem poli­ti­schen Erd­be­ben in Ost­deutsch­land reden – und zwar von einem, das nicht nur erschüt­tert, son­dern auch so man­ches Denk­ge­bäu­de zum Ein­sturz brin­gen wird… oder wenigs­tens doch soll­te.

Davon aber scheint das Land noch weit ent­fernt. Ver­folgt man die Erklä­rungs­ver­su­che von Wahl­ver­lie­rern und Exper­ten, kann man sich des Ein­drucks der Hilf­lo­sig­keit nicht erweh­ren. Zumeist wer­den bekann­te Ste­reo­ty­pe bemüht: Die Wäh­ler sei­en unzu­frie­den mit der Bun­des­po­li­tik, lit­ten unter den Infla­ti­on, sie fühl­ten sich nicht aus­rei­chend gehört oder gewert­schätzt, sei­en als Ost­deut­sche gekränkt durch west­deut­sche Bevor­mun­dung. Die meis­ten sei­en eigent­lich Pro­test­wäh­ler, die den Regie­ren­den einen Denk­zet­tel ver­pas­sen woll­ten usw. Um dem bei­zu­kom­men, müs­se man sich bes­ser erklä­ren, den Men­schen mehr Mit­spra­che­mög­lich­kei­ten geben, ihre Sor­gen kla­rer adres­sie­ren. Kurz: Man sucht die Feh­ler bei sich selbst und glaubt, durch die pas­sen­den Maß­nah­men die an BSW und AfD ver­lo­re­nen Wäh­ler zurück­ge­win­nen zu können.

Ach, wenn es doch so ein­fach wäre! Wenn es doch mög­lich wäre, mit dem ver­trau­ten Instru­men­ta­ri­um der Demo­kra­tie die Men­schen zurück­zu­ge­win­nen, die sich von der Demo­kra­tie abge­kehrt haben. Denn auch das ist eine Mög­lich­keit, die Wahl­er­geb­nis­se aus Thü­rin­gen und Sach­sen zu inter­pre­tie­ren. Nicht so, als sei­en die dor­ti­gen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger die Opfer von Krän­kung, Bevor­mun­dung und dro­hen­dem Wohl­stands­ver­lust; nicht so, als sei­en alle ande­ren – vor allem die im „Wes­ten“ – die Täter, an denen es nun liegt, den ange­rich­te­ten Scha­den wie­der gut zu machen; son­dern so, dass man zumin­dest die Denk­mög­lich­keit zulässt, dass die ver­meint­li­chen Pro­test­wäh­ler in Wahr­heit Gesin­nungs­wäh­ler sind, die aus Über­zeu­gung demo­kra­tie­feind­li­che Par­tei­en wäh­len; oder so, dass nicht „wir“ schuld dar­an sind, dass sie zu dem gewor­den sind, was sie sind, son­dern dass sie sich aus frei­en Stü­cken und wis­sent­lich dafür ent­schie­den haben, einen anti-demo­kra­ti­schen Weg einzuschlagen.

Es hie­ße im Übri­gen auch die Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler von AfD und BSW ernst neh­men, wenn man von der Hypo­the­se aus­geht, dass ihre Wahl­ent­schei­dun­gen aus ihren selbst erklär­bar sind – und nicht aus den Ver­säum­nis­sen der „ande­ren“; und dass sie nicht aus psy­cho­lo­gi­schen Kau­sa­li­tä­ten wie Krän­kung oder Ohn­macht erwach­sen, son­dern auch einem men­ta­len Betriebs­sys­tem, das sei­ne Her­kunft aus den frü­he­ren Dik­ta­tu­ren von NSDAP und SED nicht ver­leug­nen kann. Das Mind­set, das sich – meis­tens unbe­merkt doch gera­de des­halb umso wir­kungs­vol­ler – in den Köp­fen ein­ge­nis­tet hat, ist eines, des­sen Kor­re­lat in der Poli­tik nicht demo­kra­tisch, son­dern auto­kra­tisch ist.

Was ist das für ein Mind­set? Am prä­zi­ses­ten beschrie­ben hat es Fried­rich Nietz­sche. Er nennt es Nihi­lis­mus. Dar­un­ter ver­steht er eine men­ta­le Hal­tung, die durch einen tota­len Ver­lust ver­bind­li­cher Wer­te gekenn­zeich­net ist. Zwar mögen auch Nihi­lis­ten noch von Wer­ten reden, doch die­se Wer­te ste­hen bei ihnen stets im Diens­te des­sen, wor­um es ihnen am Ende ein­zig geht: Macht. Wenn alle Wer­te ver­bli­chen sind, bleibt als trei­ben­de Kraft im Men­schen nur noch der Wil­len zur Macht: „Wo ich Leben­di­ges fand, da fand ich den Wil­len zur Macht“, schreibt Nietz­sche in Also sprach Zara­thus­tra, „und noch im Wil­len des Die­nen­den fand ich den Wil­len, Herr zu sein. Dass dem Stär­ke­ren die­ne das Schwä­che­re, dazu über­re­det es sein Wil­le, der über noch Schwä­che­res Herr sein will: die­ser Lust allein mag es nicht zu ent­ra­ten.“ Die­sen Umstand macht sich das auto­kra­ti­sche Den­ken vir­tu­os zunut­ze. Egal ob in Russ­land, der VR Chi­na oder in den Köp­fen von AfD- und BSW-Anhän­gern. Der Deal ist stets der­sel­be: Ich ermäch­ti­ge den „star­ken Mann“ bzw. „die star­ke Frau“, damit sie mich ermäch­ti­gen, Gewalt über die noch Schwä­che­ren aus­zu­üben: Migran­ten, Min­der­hei­ten, Mus­li­me, Frau­en… So banal es ist, so gut scheint es noch immer zu funk­tio­nie­ren. Denn nicht man­geln­der Wohl­stand, man­geln­de Par­ti­zi­pa­ti­on, man­geln­des Gehört­wer­den oder per­sön­li­che Krän­kun­gen ver­an­las­sen die Men­schen, sich von der Demo­kra­tie abzu­wen­den, son­dern der blan­ke Wil­le zur Macht: das, was bleibt, wenn ein Men­schen­tum kei­ne Wer­te mehr kennt.

Eben des­halb ist der ent­fes­sel­te Wil­len zur Macht mit einem demo­kra­ti­schen Geist unver­ein­bar. Demo­kra­tie bedeu­tet eben nicht, den „star­ken Mann“ oder die „star­ke Frau“ durch Mehr­heits­vo­ten dazu zu legi­ti­mie­ren, einer­seits Regie­rungs­ge­walt aus­zu­üben und ande­rer­seits dem Wäh­ler Gewalt gegen­über den Schwächs­ten zuzu­bil­li­gen. Demo­kra­tie bedeu­tet nicht, die Ver­ant­wor­tung für das eige­ne Leben an die Mäch­ti­gen zu dele­gie­ren, um ver­ant­wor­tungs­los die Schwä­che­ren zu schi­ka­nie­ren. Demo­kra­tie ist immer rück­ge­bun­den an Wer­te, um deren Wil­len sie an ihren Anfän­gen über­haupt erfun­den wur­de: Gesell­schaft­li­che Kohä­si­on, Rechts­staat­lich­keit, Gerech­tig­keit, Gleich­heit, Frei­heit, Brü­der­lich­keit… Nicht um Macht­ha­ber zu legi­ti­mie­ren, sind demo­kra­ti­sche Wah­len da, son­dern um den Dis­kurs zu orches­trie­ren, wie die­se Wer­te am bes­ten ver­wirk­licht wer­den kön­nen. Die Spiel­ideen der Demo­kra­tie sind nicht Macht, Gewalt und Herr­schaft, son­dern Dis­kurs, Gemein­schaft und Gerech­tig­keit. Wer die­se Spiel­ideen nicht teilt, ver­dient den Namen Demo­krat nicht. Er ist viel­mehr ein Spiel­ver­der­ber, den die Spiel­ge­mein­schaft vom Spiel aus­zu­schlie­ßen befugt ist.

Das Spiel, das die­je­ni­gen spie­len, die ihren Wäh­lern den „star­ken Mann“ oder die „star­ke Frau“, in Aus­sicht stel­len, der sie von ihrer Ver­ant­wor­tung ent­bin­det und für sie alle Pro­ble­me lösen wird, ist nicht demo­kra­tisch. Was ist es dann? Hier kön­nen wir auf die Ana­ly­sen der Pio­nie­re des poli­ti­schen Den­kens im alten Grie­chen­land. Wo die Stim­me des Vol­kes („Wir sind der Sou­ve­rän“) als Legi­ti­ma­ti­on von Herr­schafts­übung gilt, hat man es ihrer Ansicht nach nicht mit Demo­kra­tie zu tun, son­dern mit dem­je­ni­gen, was sie Och­lok­ra­tie nann­ten: Pöbel­herr­schaft – „eine Herr­schafts­form, bei der eine Mas­se ihre poli­ti­schen Ent­schlüs­se als Mehr­heit oder durch Gewalt eigen­nüt­zig durch­setzt“ (Wiki­pe­dia). Die Och­lok­ra­tie ist eine Form der Tyran­nis: ein Sys­tem, bei dem es nicht um die Wer­te der Gemein­schaft geht, son­dern um die Macht­in­ter­es­sen der Ein­zel­nen. Im och­lok­ra­ti­schen Ungeist sind AfD und BSW vereint.

Spä­tes­tens seit dem 1. Sep­tem­ber 2024 ver­läuft die poli­ti­sche Demar­ka­ti­ons­li­nie in Deutsch­land nicht mehr zwi­schen Rechts und Links, son­dern zwi­schen demo­kra­tisch und och­lok­ra­tisch. Und das Fata­le ist, dass eini­ge der mut­maß­lich demo­kra­ti­schen Par­tei­en den Schuss noch immer nicht gehört haben, und nach wie vor ihrer über­hol­ten poli­ti­schen Land­kar­te fol­gen. Allem vor­an die CSU und Mar­kus Söder und die CDU unter Fried­rich Merz sind hier zu nen­nen. Anstatt demo­kra­ti­sche Koali­tio­nen gegen die Och­lok­ra­ten zu schmie­den, spie­len sie ihre macht­po­li­ti­schen Spie­le, las­sen Hass­ti­ra­den gegen die Grü­nen vom Sta­pel und ver­leug­nen immer mehr die Wer­te und Spiel­re­geln der Demo­kra­tie: Kon­struk­ti­ve Oppo­si­ti­on? Ver­ges­sen! Gemein­sa­mes Rin­gen um die bes­ten Lösun­gen fürs Land? Fehl­an­zei­ge! Es steht zu befürch­ten, dass Tei­le der Uni­on bereits die Demar­ka­ti­ons­li­nie zur Och­lok­ra­tie über­schrit­ten haben. Denn Demo­kra­tie ist nur, wo demo­kra­ti­sche Wer­te gelebt werden.

Was ist zu tun? Das wich­tigs­te ist: Die Zei­chen der Zeit ver­ste­hen. Die poli­ti­sche Matrix hat sich gewan­delt. Wo man es mit BSW und AfD zu tun hat, geht es nicht mehr um den Dis­kurs unter Demo­kra­ten, son­dern um den Kampf zwi­schen zwei inkom­pa­ti­blen poli­ti­schen Model­len: Demo­kra­tie und Rechts­staat­lich­keit ver­sus Och­lok­ra­tie und Zwangs­herr­schaft. Mit die­sem Gedan­ken müs­sen wir uns anfreun­den. Es läuft auf einen Kampf hin­aus. Für die­sen Kampf sind Demo­kra­ten schlecht gewapp­net, da sie ihn – anders als ihre Geg­ner – nur mit demo­kra­ti­schen Mit­teln füh­ren kön­nen. Die­se Mit­tel gibt es, und die Zeit ist da, sie ins Feld zu füh­ren: allem vor­an das Recht, dass es erlaubt, die Fein­de der Demo­kra­tie in ihre Schran­ken zu wei­sen. Ein Schmu­se­kurs ist nicht mehr mög­lich. Wer die Demo­kra­tie ver­tei­di­gen will, muss ent­schie­den für ihre Wer­te ein­tre­ten. Und je mehr wir das tun, des­to eher wird es gelin­gen, den Nihi­lis­mus ein­zu­däm­men und den Fein­den der Demo­kra­tie den Nähr­bo­den zu entziehen.

Das hat­te Fried­rich Nietz­sche schon gese­hen: Der Nihi­lis­mus macht sich da breit, wo ein Wer­t­eva­ku­um ent­steht. Das war es, was er mein­te, als er vom Tod Got­tes sprach: den Ver­lust einer Wer­te­ma­trix, die dem Leben eine Rich­tung gibt, die Men­schen ver­bin­det und die ihnen eine Per­spek­ti­ve gibt, die mehr ist als die blo­ße Lust an Macht und an Gewalt. Des­halb kann die Auf­ga­be der Demo­kra­ten heu­te nur eine sein: Wir brau­chen eine demo­kra­ti­sche Zivil­re­li­gi­on, die das nihi­lis­ti­sche Wer­t­eva­ku­um zurückdrängt.