Das Heil liegt in der Achtsamkeit

Thich Nhat Hanh verstarb am 22. Januar 2022

Nur wenn wir lernen, bewusst zu konsumieren, haben wir eine Chance diesen Planeten zu retten. Achtsamkeit ist die Essenz aller Weisheitstraditionen, meint Thich Nhat Hanh

Ein Interview von mir mit ihm aus dem Jahr 2003

Die Welt hat Probleme. Die Wirtschaft wankt, das Klima ist aus dem Gleichgewicht. Sind das Symptome einer spirituellen Krise?

Im Leben gibt es immer Zeiten der Krise. Manchmal sind sie klein, manchmal sind sie groß. Aber immer haben sie eine spirituelle Dimension, die zu sehen es uns erlaubt, mit ihnen umgehen zu können. Das ist der Grund, warum jeder Mensch ein Bewusstsein für diese spirituelle Dimension haben und sich in ihrer Entfaltung üben sollte.

Bedeutet das: Rückzug in eine spirituelle Welt?

Spiritualität ist etwas, das nicht von unserem alltäglichen Leben getrennt ist. Eine Tasse Tee trinken, kann etwas sehr Spirituelles sein. Einkaufen kann etwas sehr Spirituelles sein. Gehen, Atmen, mit Menschen reden – all das kann sehr spirituell sein. Spiritualität ist konkret. Sie speist sich aus Energien, und ihre wichtigste Energie bekommt sie aus der Achtsamkeit.

Bedarf es dafür einer bestimmten Praxis?

Achtsamkeit ist eine Lebensform, die eingeübt werden will. Durch wiederholte Praxis. Wenn ich gehe, kann ich in Achtsamkeit gehen. Wenn ich esse, kann ich in Achtsamkeit essen. Gehe ich in Achtsamkeit, finde ich zu einer größeren Präsenz. Ich bin im Hier und Jetzt. Wenn ich im Hier und Jetzt bin komme ich in Berührung mit der Tiefe des Lebens – oder mit dem Reich Gottes, von dem Jesus gesprochen hat. Nun, jeder Mensch hat das Vermögen, achtsam zu gehen und zu essen. Worauf es ankommt ist nur, im Hier und Jetzt zu gehen.

Wie wirkt sich Achtsamkeit aus?

Auf verschiedene Weise. Wenn Sie achtsam gehen, fühlen Sie sich lebendiger. Sie werden mit all den Wundern des Lebens in Berührung kommen. Wenn Sie hingegen achtlos gehen, werden Sie die Orientierung verlieren. Deshalb: Üben Sie sich darin – atmen Sie achtsam. Wenn Sie achtsam atmen, werden sie erfahren, was es bedeutet zu leben. Das Leben ist ein Wunder. Achtsamkeit ist jedermann möglich. Jeder Mensch kann spirituell sein – jeder kann auf seine persönliche Weise achtsam leben, essen, gehen… Außerdem werden Sie durch Achtsamkeit konzentrierter. Wenn Sie konzentrierter sind, werden Sie tiefer in das eindringen, was da ist. Und in sich selbst. Sie werden glücklicher sein. Durch Achtsamkeit und Konzentration werden Sie Einsichten bekommen. Es ist ganz so wie in der Schule. Wenn Sie im Mathematikunterricht nicht konzentriert sind, werden Sie die Aufgaben nicht lösen. Deswegen ist Konzentration wichtig, um zu echter Einsicht zu gelangen: zur Einsicht dessen, was da ist – zum Verständnis des Wesens dessen, was da ist.

Auch die Weltwirtschaftskrise?

Ja, die Weltwirtschaftskrise ist da. Durch Achtsamkeit und Konzentration werden Sie verstehen, was es mit ihr auf sich hat. Sie werden ihre Wurzeln verstehen. Sie werden ihr Wesen begreifen. Und durch diese Erkenntnis werden Sie erfahren, was zu tun ist – und was nicht zu tun ist -, um das Problem zu lösen. Einsicht ist der Ausweg. Aber zur Einsicht werden Sie ohne Achtsamkeit und Konzentration nicht finden. Achtsamkeit und Konzentration sind Kraftquellen. Wer über Achtsamkeit und Konzentration verfügt, findet zu spiritueller Kraft. Es ist diese Kraft, die uns hilft, uns nicht in Sorgen zu verzehren und nicht in Verzweiflung zu fallen. Sie hilft uns, den Ausweg zu sehen. Achtsam ist die Energie, die Sie hier und jetzt da sein lässt und Ihnen die Augen öffnet für das, was im Augenblick geschieht.

Wie verhalten sich Achtsamkeit und Liebe zueinander?

Um lieben zu können, müssen Sie achtsam sein. Achtsam-Sein bedeutet wahrzunehmen, dass Sie da sind – und dass Ihre Geliebte oder Ihr Geliebter da ist. Wenn Sie nicht da sind, wie können Sie lieben? Wenn Sie die Präsenz des anderen Menschen nicht wahrnehmen, wie können Sie ihn lieben? Achtsamkeit ist die Kraftquelle der Liebe. Sie ist ihr tragendes Fundament.

Sie verwenden im Zusammenhang der Achtsamkeit auch gerne den Begriff des Inter-Seins: Was meinen Sie damit?

Achtsamkeit ist die Kraft der Konzentration, die uns zur Einsicht führt. Sie führt uns zu der Einsicht, dass alles was ist, mit einander verbunden ist. Das ist es, was ich Inter-Sein nenne. Es ist unter der Oberfläche verborgen. Aber es ist ganz real. Nichts und niemand kann für sich allein existieren. Um zu existieren muss alles mit allem verbunden sein. Nehmen Sie eine Blume: Eine Blume kann nicht für sich allein existieren – ohne den Sonnenschein, ohne die Wolke, die Erde, den Regen. Das heißt: Die Blumen ist in ihrem Sein mit ganz vielem verbunden, was nicht Blume ist. Wenn Sie nun achtsam eine Blume anschauen, dann sehen Sie darin all diese Aspekte, die nicht Blume sind, dennoch zum Sein der Blume gehören. Ohne sie würde sich die Blume nicht manifestieren können. Deswegen sagen wir: Die Blume kann nicht für sich allein existieren. Sie ist mit dem ganzen Kosmos verbunden.

Und bei uns Menschen ist es genauso?

Selbstverständlich. Doch oft sind wir uns dieser Verbindung nicht bewusst. Nehmen wir einen Sohn und einen Vater. Wenn Sie einen Konflikt mit Ihrem Vater haben, dann ist das ein Zeichen dafür, dass Ihnen die Einsicht in das Wesen der Verbindung fehlt, die zwischen Ihnen und Ihrem Vater besteht. Wenn Sie sich aber achtsam und konzentriert Ihrem Vater zuwenden, dann sehen Sie sich selbst in ihm – und ihn in sich selbst. Und Sie begreifen, dass Sie und Ihr Vater im Intersein verbunden sind. Sie sind in Verbindung mit Ihrem Vater. Sie sind – in gewisser Weise – Ihr Vater. Das heißt: Wenn Sie auf Ihren Vater zornig sind, sind Sie in Wahrheit zornig auf sich selbst. Durch die Einsicht in dieses Inter-Sein gelingt es uns, unser Getrenntsein zu transzendieren. Und wo uns das gelingt, transformieren wir unseren Ärger und hören auf, andere zu diskriminieren. Die Übung der Achtsamkeit bringt uns mit unserem Inneren in Verbindung und nimmt uns die Furcht, den Zorn, die Ablehnung.

Führt die Übung der Achtsamkeit auch an einen Punkt, an dem wir unsere Verbundenheit mit der ganzen Menschenfamilie erfahren?

Achtsamkeit führt uns zu der Einsicht, dass wir eins sind. Zu dieser Einsicht kommen wir nicht auf dem Weg von Diskussionen und Theorien. Das Verbunden-Sein und Zusammengehören erschließt sich Ihnen nur durch innere Einsicht. Inter-Sein ist nicht eine Idee, sondern eine Realität, die Sie nur erfahren können. Und wenn Sie sie erfahren haben, werden Sie ihr gemäß handeln und sich nicht länger wie ein getrenntes Wesen verhalten, das unter seinem Getrenntsein leidet.

Achtsamkeit und das Bewusstsein für die Dimension des Interseins: Sind das die Säulen einer globalen Spiritualität; einer Spiritualität, die uns erkennen und demgemäß handeln lässt, dass wir eine Menschheit sind, in der alle mit allen verbunden sind – mehr noch, dass wir am Ende auch mit der ganzen Natur eins sind?

Wenn wir achtsam sind, dann unterscheiden wir nicht mehr zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Wir erfahren die Heiligkeit in allem. Sie können Ihren Tee unachtsam trinken. Sie sind zwar da, aber Sie sind nicht wirklich da. Sie sind ganz von Ihrer Furcht und Ihrem Ärger absorbiert. Dann trinken Sie nicht wirklich Ihren Tee, sondern Sie trinken Ihre Furcht und Ihren Ärger. Das Leben ist nicht wirklich da. Achtsamkeit führt sie dorthin zurück – in die Gegenwärtigkeit des Hier und Jetzt. Dort enthüllt sich Ihnen ihr wahres Wesen – und die Verbundenheit Ihres wahren Wesens mit allem was lebt. Das ist im Übrigen der Grund, warum Achtsamkeit die Macht hat, uns von Tod und Nichtsein zu erretten. Sie erlaubt es uns, wirklich da zu sein, lebendig. Wenn es uns gelingt, in permanenter Achtsamkeit zu leben, dann wächst uns eine Weisheit zu, die uns befreit.

Befreit wovon?

Befreit vom Leiden. Das Leiden kann etwas Positives sein. Schauen Sie eine Blume an. Wenn Sie sich auf die Blume einlassen, erkennen Sie zunächst, dass sie existiert. Und dann sehen Sie, dass die Blume ein Wunder ist. Sie begreifen an der Blume, dass das Reich Gottes da ist. Die Blume ist im Reich Gottes. Das Reich Gottes ist nicht einfach nur eine Idee. Es ist nicht etwas, das in der Zukunft liegt. Es ist etwas, dass Sie berühren können – wenn Sie achtsam sind. Wenn Sie achtsam sind, wird Ihnen bewusst, dass das Reich Gottes im Hier und Jetzt ist. Wenn Ihnen das bewusst sind, erkennen Sie, dass das Reich Gottes hier und jetzt zugänglich ist – hier und jetzt, oder nie. Achtsamkeit führt Sie zu dieser Konzentration auf das Innere. Sie führt sie sehr rasch in das Reich Gottes. Wenn Sie dort angekommen sind, wird vieles von dem nebensächlich, was Ihnen früher wichtig schien: Ruhm, Wohlstand, Sex, Macht – all das, was uns leiden verursacht, wenn wir auf es fixiert sind.

Sie reden vom Reich Gottes, als sei es ein zentraler Aspekt Ihrer Religion. Dabei ist es eine Vorstellung, die aus dem Christentum kommt. Sollten die christlichen Kirchen eine Spiritualität der Achtsamkeit lehren?

Ja, ich glaube es ist Aufgabe der Kirchen, den Menschen eine Lehre und eine Praxis anzubieten, die sie darin unterstützt, mit dem Reich Gottes in Berührung zu kommen. Und die Vertreter der Kirche sollten diese Lehre und diese Praxis glaubhaft verkörpern. Damit die junge Generation weiß, wohin sie gehen soll und woran sie sich halten kann. Das ist aber auch der Grund dafür, dass Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht nicht nur für Buddhisten eine Übung sind; denn jeder Mensch hat das Vermögen, achtsam und konzentriert zu sein – und den Weg nach Innen anzutreten.

Achtsamkeit ist eine spirituelle Praxis, die sich in allen Religionen findet?

Wir sollten uns nicht durch Worte und Argumente von einander trennen. Wir sollten uns darum bemühen, mit der Realität in Berührung zu kommen. Und das ist es, was uns die Achtsamkeit erlaubt. Wir können in jedem Moment Achtsamkeit üben, ebenso Konzentration, ebenso Einsicht. In gewisser Hinsicht können wir sagen: Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht sind gleichbedeutend mit dem, was die christliche Tradition den „Heiligen Geist“ nennt. Wenn immer Sie achtsam und konzentriert sind, dann ist Gott in Ihnen. Und wenn Gott in Ihnen ist, dann sind Sie sicher. Und lebendig. Sie können dabei unterschiedliche religiöse Traditionen und Terminologien aufgreifen – was zählt ist, dass Sie dabei die Realität berühren. Denn nur die Realität macht Sie frei und neu und lebendig.

Wir können über die Erfahrung der Realität auf unterschiedliche Weise reden. Aber sie ist doch eine Erfahrung, die jedermann offen steht. Man muss dafür nichtmals religiös sein.

Wir haben ja darüber gesprochen, dass der Unterschied zwischen Heilig und Profan nebensächlich wird, wenn wir in der Energie der Achtsamkeit sind. Spirituelle Menschen nennen diese Energie Gott. Aber das ist nur eine Idee. Denn wenn wir Gott als Achtsamkeit, Konzentration und Einsicht beschreiben, dann ist klar, dass Spiritualität Gott ist. Das mag dem zuwiderlaufen, was wir uns unter Gott und dem Reich Gottes vorstellen. Aber es sind gerade unsere Begriffe, Ideen und Konzepte, die uns von dieser Wirklichkeit fernhalten. Deswegen hilft uns, mit anderen zusammen sein und von ihnen zu lernen. Wenn wir uns mit anderen austauschen, werden wir unser Leben auf eine achtsame und ungetrennte Weise leben. Und das ist der einzige Weg, der uns aus der Angst und Verlorenheit befreit, denen wir sonst wegen unseren Konzepten ausgesetzt sind. Das ist der einzige Weg, der uns unsere Verbundenheit zu Bewusstsein bringt.

Ist die Übung der Meditation eine gute Basis, auf der sich Menschen aus unterschiedlichen Traditionen begegnen können?

Meditation mag eine gute Übung sein. Aber Achtsamkeit ist besser. Denn für eine Meditation brauchen wir bestimmte Voraussetzungen: einen ruhigen Ort, eine ruhige Zeit, in der wir uns von unseren Gedanken befreien. Achtsamkeit hingegen findet in jedem Moment unseres täglichen Lebens statt. Sie können achtsam einkaufen gehen, achtsam autofahren, achtsam Ihren Partner behandeln, achtsam Ihren Tee trinken. Das ist sehr spirituell. Es ist eine Meditation in sich. Wenn wir Meditation als eine Übung verstehen, bei der wir mit dem, was ist, in Berührung kommen.

Was empfehlen Sie, wenn Menschen entdecken wollen, was sie in der Tiefe verbindet?

Wenn sie etwas wirklich Nützliches tun und dabei keine Zeit verlieren wollen, dann sollten sie zunächst sich und die anderen darüber aufklären, was es mit dem Glück auf sich hat. Jeder Mensch möchte glücklich sein. Viele streben nach Ruhm und Macht und Geld. Aber sie sind nicht in der Lage, im Augenblick glücklich zu sein. Sie hetzen ständig herum. Das ist eines der Hauptkennzeichen unserer Zivilisation. Deshalb sollten wir früh damit beginnen – als Eltern und Lehrer – unsern Kindern ein Vorbild zu sein. Wir sollten ihnen zeigen, dass es möglich ist, glücklich zu sein und zu lieben, ohne ständig herum zu hetzen, um mehr Geld und Wohlstand zu ergattern. Damit sollten wir anfangen: Vormachen, dass wir im Hier und Jetzt glücklich sein können; dass wir aus der Präsenz im Hier und Jetzt die Kraft entwickeln zu lieben und uns selbst und den anderen zuzuwenden; dass wir damit aufhören können, durchs Leben zu hetzen. Wenn wir diesen Punkt erreicht haben, können wir die Welt retten; dann können wir wirklich die Gründe für den Klimawandel beheben. Denn dann vergeuden wir unsere Energie nicht mehr, weil wir erkannt haben, dass das Wunder des Lebens längst da ist – dass das Königreich Gottes unter uns ist – dass genügend für alle da ist, um hier und jetzt glücklich zu sein. Das einzige was Not tut ist „Stopp“. Aufhören ist der Schlüssel. Es wird immer Menschen mit unterschiedlichen religiösen Traditionen geben. Sie werden immer ihre Anhänger auf unterschiedliche Weise erziehen. Niemand muss seine Herkunft verleugnen. Denn in allen Traditionen gibt es ähnliche Lehren und Übungen. Und in ihnen allen gibt es Einsicht und Verstehen. Alle weisen Wege zu Glück. Wenn Sie in Ihrer Tradition vorangekommen sind und Tiefe und Einsicht erlangt haben, dann ist es gut, andere religiöse Traditionen kennen zu lernen und gemeinsam zu feiern und zu beten. Auf dieser Basis macht die Begegnung der Religionen Sinn. Anderenfalls ist sie nutzlos.

Für wechselseitige Inspiration und spirituelle Unterstützung ist die interreligiöse Begegnung wichtig?

Ja, es ist nicht wichtig in Konferenzen zusammen zu kommen, sondern dort, wo man ist. Wenn das gelingt, ist es gut, sich gegenseitig einzuladen und Menschen die Möglichkeit zu geben, am eigenen spirituellen Leben teilzunehmen – sich besser kennen zu lernen. Dabei kommt mehr heraus, als viel Geld, Zeit und Energie für die Organisation großer Konferenzen aufzuwenden, die allenfalls schöne Papiere produzieren.

Die Welt von heute leidet unter einer Wirtschaftsordnung, die uns zu ungebremstem Konsum auffordert. Sie empfehlen dagegen ein achtsames Konsumieren. Was verstehen Sie darunter?

Achtsames Konsumieren könnte ein Ausweg sein. Es sollte ein Ausweg sein. Unser gewöhnlicher Konsum wird meistens von Angst getrieben. Aus Angst schielen wir nach Geld, aus Angst konsumieren wir. Immer sitzt uns die Sorge um unseren Lebensunterhalt im Nacken. Deshalb ist es sehr wichtig, sich Zeit zu nehmen – sich hinzusetzen und in uns hineinzuhorchen: Was ist unser ursprüngliches Begehren? Es ist das Begehren zu überleben. In dem Moment, in dem wir geboren werden, sind wir ganz verletzlich. Unsere Nabelschnur wird getrennt und wir müssen selbständig atmen. Unsere Lungen sind noch nicht aufgefaltet. Wir ringen um Atem. Es ist sehr riskant, ein Wagnis. In diesem Augenblick dringt diese Grundangst in uns ein. Und die Grundsehnsucht zu überleben. Von diesem Augenblick an beherrschen sie uns. Bis wir uns hinsetzen und sie anschauen. Das tun wir in der Meditation. In der Meditation machen wir uns klar, was in uns vorgeht. In ihr erkennen wir, dass unser Verhalten von dieser Grundangst und dieser Grundsehnsucht konditioniert ist. Haben wir aber verstanden, dass sie uns beherrschen, verlieren sie ihre Macht über uns.

Inwiefern?

Wir verstehen, dass unsere Angst aus den traumatischen Kindheitserfahrungen herrührt. Wir sind aber inzwischen erwachsen. Und als Erwachsene können wir wissen, dass es keinen Grund gibt, sich zu ängstigen. Wir sind in der Lage, selbst auf uns achtzugeben und anderen Menschen beizustehen. Diese Einsicht befreit uns von der Furcht. Uns befreit das Wissen: Ich bin ein sterbliches Wesen. An dieser Tatsache komme ich nicht vorbei. Ebenso wenig an der Tatsache, dass ich erkranken werde. Ich kann Krankheiten nicht entkommen. Auch liegt es in meiner Natur zu altern. Ich kann das Alter nicht vermeiden. Eines Tages werde ich all meine Lieben verlassen. Ich kann diesem Abschied nicht entgehen. Vor alledem fürchte ich mich. Aber es ist meine Aufgabe, diese Furcht zu erkennen. Dazu dient die Meditation. Sie hilft mir, tief in meine eigene Natur zu schauen: in meine Natur als geborenes und sterbliches Wesen. So kann ich die Furcht in mir transzendieren. Mir scheint, dass die moderne Psychotherapie dabei gute Dienste erweisen kann.

Und wenn uns das Grundbegehren und die Grundsehnsucht nicht mehr vor sich her treiben – dann können wir der Spirale des Konsums entkommen?

Unser Konsumverhalten wird angetrieben durch die Angst vor Einsamkeit und Sinnlosigkeit. Gewöhnlich haben wir keine Mittel, uns irgendwie zu dieser Angst zu verhalten. Und deshalb konsumieren wir ungebremst weiter. Wenn wir konsumieren, beschwichtigen wir die innere Leere, die Einsamkeit und die Furcht in uns. Das Problem dabei ist, dass wir durch diesen unbewussten Konsum immer mehr Gifte in unseren Körper und unseren Geist aufnehmen. Konsum ist also keine Lösung. Das zu erkennen – wirklich zu erkennen – ist sehr wichtig.

Welche Art von Konsum können wir dem entgegen setzen?

In der buddhistischen Tradition sprechen wir von den 4 Nahrungsmitteln. Das erste ist die körperliche Nahrung. Wir sollten achtsam essen und trinken. Wir sollten darauf achten, keine Gifte in unseren Körper zu lassen. Wenn wir achtsam essen und trinken, dann stärken wir darin unser Mitgefühl. Wir werden dann nicht gedankenlos das Fleisch unserer Brüder und Schwestern essen. Die zweite Nahrung sind unsere Sinneseindrücke. Wir konsumieren bei allem, was wir hören, riechen oder sehen. Auch wenn wir die Zeitung lesen, konsumieren wir. Wenn wir Werbung ansehen, konsumieren wir. Wenn wir Musik hören, konsumieren wir. Und selbst wenn wir miteinander Konversation treiben, konsumieren wir. Konversation kann unterschiedlich auf uns wirken: Sie kann Ärger in uns verursachen, sie kann uns verzweifeln lassen, sie kann uns betrüben. Und so geht es uns bei jeder Form des Konsumierens.

Außer beim achtsamen Konsum?

Ja, es ist ganz wichtig, dass wir unsere Sinneseindrücke achtsam konsumieren – dass wir darauf achten, keine negativen Emotionen und Ängste zu konsumieren: nicht zu hören, nicht zu sehen, keine Aufmerksamkeit zu schenken. Auf diese Weise können wir uns schützen: uns, unsere Familien, unsere Gesellschaft. Es ist nicht gut, dass wir unsere Kinder durchschnittlich zwei Stunden am Tag fernsehen lassen. Auf diese Weise gerät viel Gift in ihren Körper und ihren Geist. Achtsames Konsumieren schützt davor. Es ist ein Schutzschild. Ohne achtsamen Konsum fehlt uns dieser Schutz.

Es gibt dann noch zwei weitere Formen der Nahrung?

Die dritte Art der Nahrung ist die geistige Nahrung. Sie hat mit unserem Begehren und unserer Sehnsucht zu tun. Unsere tiefste Sehnsucht sollte umfassend sein: eine umfassende Liebe zu unserem Planeten – der Wunsch, ihn zu retten. Dieser Wunsch sollte unserem Konsum zu Grunde liegen. Nicht der Wunsch zu zerstören, zu strafen, Rache zu üben. Genau diese Wünsche aber wecken wir in den Seelen unserer Kinder, wenn wir sie Zorn, Hass und Aggression konsumieren lassen. Wir müssen ihnen eine andere Nahrung bieten: einen umfassenden, positiven Konsum. Und die vierte Art der Nahrung ist die Nahrung des Bewusstseins. Wenn Sie mit einer Gruppe leben, dann nehmen sie deren Bewusstsein auf. Sie konsumieren das Gruppenbewusstsein. Sie werden zu einem Bruder im Geiste der Gruppe. Davor sollten Sie sich schützen. Sie sollten Orte meiden, an denen die Menschen sich betäuben. Gehen Sie lieber an Orte, an denen sie Menschen mit Mitgefühl und klarem Geist treffen. Damit Sie deren Bewusstsein konsumieren. Ich meine, diese Lehre von den vier Arten des Konsums sollte beherzt werden: Wir sollten achtsamen Konsum erlernen. Nur so können wir unseren Planeten und unsere Umwelt retten. Jede Tradition hat genug Weisheit dafür

(Interview aus dem Jahr 2003, veröffentlicht in „Unsere Welt ist heilig. Gespräche auf dem Weg zu einer globalen Spiritualität“