Das Heil liegt in der Achtsamkeit

Thich Nhat Hanh ver­starb am 22. Janu­ar 2022

Nur wenn wir ler­nen, bewusst zu kon­su­mie­ren, haben wir eine Chan­ce die­sen Pla­ne­ten zu ret­ten. Acht­sam­keit ist die Essenz aller Weis­heits­tra­di­tio­nen, meint Thich Nhat Hanh

Ein Inter­view von mir mit ihm aus dem Jahr 2003

Die Welt hat Pro­ble­me. Die Wirt­schaft wankt, das Kli­ma ist aus dem Gleich­ge­wicht. Sind das Sym­pto­me einer spi­ri­tu­el­len Krise?

Im Leben gibt es immer Zei­ten der Kri­se. Manch­mal sind sie klein, manch­mal sind sie groß. Aber immer haben sie eine spi­ri­tu­el­le Dimen­si­on, die zu sehen es uns erlaubt, mit ihnen umge­hen zu kön­nen. Das ist der Grund, war­um jeder Mensch ein Bewusst­sein für die­se spi­ri­tu­el­le Dimen­si­on haben und sich in ihrer Ent­fal­tung üben sollte.

Bedeu­tet das: Rück­zug in eine spi­ri­tu­el­le Welt?

Spi­ri­tua­li­tät ist etwas, das nicht von unse­rem all­täg­li­chen Leben getrennt ist. Eine Tas­se Tee trin­ken, kann etwas sehr Spi­ri­tu­el­les sein. Ein­kau­fen kann etwas sehr Spi­ri­tu­el­les sein. Gehen, Atmen, mit Men­schen reden – all das kann sehr spi­ri­tu­ell sein. Spi­ri­tua­li­tät ist kon­kret. Sie speist sich aus Ener­gien, und ihre wich­tigs­te Ener­gie bekommt sie aus der Achtsamkeit.

Bedarf es dafür einer bestimm­ten Praxis?

Acht­sam­keit ist eine Lebens­form, die ein­ge­übt wer­den will. Durch wie­der­hol­te Pra­xis. Wenn ich gehe, kann ich in Acht­sam­keit gehen. Wenn ich esse, kann ich in Acht­sam­keit essen. Gehe ich in Acht­sam­keit, fin­de ich zu einer grö­ße­ren Prä­senz. Ich bin im Hier und Jetzt. Wenn ich im Hier und Jetzt bin kom­me ich in Berüh­rung mit der Tie­fe des Lebens – oder mit dem Reich Got­tes, von dem Jesus gespro­chen hat. Nun, jeder Mensch hat das Ver­mö­gen, acht­sam zu gehen und zu essen. Wor­auf es ankommt ist nur, im Hier und Jetzt zu gehen.

Wie wirkt sich Acht­sam­keit aus?

Auf ver­schie­de­ne Wei­se. Wenn Sie acht­sam gehen, füh­len Sie sich leben­di­ger. Sie wer­den mit all den Wun­dern des Lebens in Berüh­rung kom­men. Wenn Sie hin­ge­gen acht­los gehen, wer­den Sie die Ori­en­tie­rung ver­lie­ren. Des­halb: Üben Sie sich dar­in – atmen Sie acht­sam. Wenn Sie acht­sam atmen, wer­den sie erfah­ren, was es bedeu­tet zu leben. Das Leben ist ein Wun­der. Acht­sam­keit ist jeder­mann mög­lich. Jeder Mensch kann spi­ri­tu­ell sein – jeder kann auf sei­ne per­sön­li­che Wei­se acht­sam leben, essen, gehen… Außer­dem wer­den Sie durch Acht­sam­keit kon­zen­trier­ter. Wenn Sie kon­zen­trier­ter sind, wer­den Sie tie­fer in das ein­drin­gen, was da ist. Und in sich selbst. Sie wer­den glück­li­cher sein. Durch Acht­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on wer­den Sie Ein­sich­ten bekom­men. Es ist ganz so wie in der Schu­le. Wenn Sie im Mathe­ma­tik­un­ter­richt nicht kon­zen­triert sind, wer­den Sie die Auf­ga­ben nicht lösen. Des­we­gen ist Kon­zen­tra­ti­on wich­tig, um zu ech­ter Ein­sicht zu gelan­gen: zur Ein­sicht des­sen, was da ist – zum Ver­ständ­nis des Wesens des­sen, was da ist.

Auch die Weltwirtschaftskrise?

Ja, die Welt­wirt­schafts­kri­se ist da. Durch Acht­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on wer­den Sie ver­ste­hen, was es mit ihr auf sich hat. Sie wer­den ihre Wur­zeln ver­ste­hen. Sie wer­den ihr Wesen begrei­fen. Und durch die­se Erkennt­nis wer­den Sie erfah­ren, was zu tun ist – und was nicht zu tun ist -, um das Pro­blem zu lösen. Ein­sicht ist der Aus­weg. Aber zur Ein­sicht wer­den Sie ohne Acht­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on nicht fin­den. Acht­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on sind Kraft­quel­len. Wer über Acht­sam­keit und Kon­zen­tra­ti­on ver­fügt, fin­det zu spi­ri­tu­el­ler Kraft. Es ist die­se Kraft, die uns hilft, uns nicht in Sor­gen zu ver­zeh­ren und nicht in Ver­zweif­lung zu fal­len. Sie hilft uns, den Aus­weg zu sehen. Acht­sam ist die Ener­gie, die Sie hier und jetzt da sein lässt und Ihnen die Augen öff­net für das, was im Augen­blick geschieht.

Wie ver­hal­ten sich Acht­sam­keit und Lie­be zueinander?

Um lie­ben zu kön­nen, müs­sen Sie acht­sam sein. Acht­sam-Sein bedeu­tet wahr­zu­neh­men, dass Sie da sind – und dass Ihre Gelieb­te oder Ihr Gelieb­ter da ist. Wenn Sie nicht da sind, wie kön­nen Sie lie­ben? Wenn Sie die Prä­senz des ande­ren Men­schen nicht wahr­neh­men, wie kön­nen Sie ihn lie­ben? Acht­sam­keit ist die Kraft­quel­le der Lie­be. Sie ist ihr tra­gen­des Fundament.

Sie ver­wen­den im Zusam­men­hang der Acht­sam­keit auch ger­ne den Begriff des Inter-Seins: Was mei­nen Sie damit?

Acht­sam­keit ist die Kraft der Kon­zen­tra­ti­on, die uns zur Ein­sicht führt. Sie führt uns zu der Ein­sicht, dass alles was ist, mit ein­an­der ver­bun­den ist. Das ist es, was ich Inter-Sein nen­ne. Es ist unter der Ober­flä­che ver­bor­gen. Aber es ist ganz real. Nichts und nie­mand kann für sich allein exis­tie­ren. Um zu exis­tie­ren muss alles mit allem ver­bun­den sein. Neh­men Sie eine Blu­me: Eine Blu­me kann nicht für sich allein exis­tie­ren – ohne den Son­nen­schein, ohne die Wol­ke, die Erde, den Regen. Das heißt: Die Blu­men ist in ihrem Sein mit ganz vie­lem ver­bun­den, was nicht Blu­me ist. Wenn Sie nun acht­sam eine Blu­me anschau­en, dann sehen Sie dar­in all die­se Aspek­te, die nicht Blu­me sind, den­noch zum Sein der Blu­me gehö­ren. Ohne sie wür­de sich die Blu­me nicht mani­fes­tie­ren kön­nen. Des­we­gen sagen wir: Die Blu­me kann nicht für sich allein exis­tie­ren. Sie ist mit dem gan­zen Kos­mos verbunden.

Und bei uns Men­schen ist es genauso?

Selbst­ver­ständ­lich. Doch oft sind wir uns die­ser Ver­bin­dung nicht bewusst. Neh­men wir einen Sohn und einen Vater. Wenn Sie einen Kon­flikt mit Ihrem Vater haben, dann ist das ein Zei­chen dafür, dass Ihnen die Ein­sicht in das Wesen der Ver­bin­dung fehlt, die zwi­schen Ihnen und Ihrem Vater besteht. Wenn Sie sich aber acht­sam und kon­zen­triert Ihrem Vater zuwen­den, dann sehen Sie sich selbst in ihm – und ihn in sich selbst. Und Sie begrei­fen, dass Sie und Ihr Vater im Inter­sein ver­bun­den sind. Sie sind in Ver­bin­dung mit Ihrem Vater. Sie sind – in gewis­ser Wei­se – Ihr Vater. Das heißt: Wenn Sie auf Ihren Vater zor­nig sind, sind Sie in Wahr­heit zor­nig auf sich selbst. Durch die Ein­sicht in die­ses Inter-Sein gelingt es uns, unser Getrennt­sein zu tran­szen­die­ren. Und wo uns das gelingt, trans­for­mie­ren wir unse­ren Ärger und hören auf, ande­re zu dis­kri­mi­nie­ren. Die Übung der Acht­sam­keit bringt uns mit unse­rem Inne­ren in Ver­bin­dung und nimmt uns die Furcht, den Zorn, die Ablehnung.

Führt die Übung der Acht­sam­keit auch an einen Punkt, an dem wir unse­re Ver­bun­den­heit mit der gan­zen Men­schen­fa­mi­lie erfahren?

Acht­sam­keit führt uns zu der Ein­sicht, dass wir eins sind. Zu die­ser Ein­sicht kom­men wir nicht auf dem Weg von Dis­kus­sio­nen und Theo­rien. Das Ver­bun­den-Sein und Zusam­men­ge­hö­ren erschließt sich Ihnen nur durch inne­re Ein­sicht. Inter-Sein ist nicht eine Idee, son­dern eine Rea­li­tät, die Sie nur erfah­ren kön­nen. Und wenn Sie sie erfah­ren haben, wer­den Sie ihr gemäß han­deln und sich nicht län­ger wie ein getrenn­tes Wesen ver­hal­ten, das unter sei­nem Getrennt­sein leidet.

Acht­sam­keit und das Bewusst­sein für die Dimen­si­on des Inter­seins: Sind das die Säu­len einer glo­ba­len Spi­ri­tua­li­tät; einer Spi­ri­tua­li­tät, die uns erken­nen und dem­ge­mäß han­deln lässt, dass wir eine Mensch­heit sind, in der alle mit allen ver­bun­den sind – mehr noch, dass wir am Ende auch mit der gan­zen Natur eins sind?

Wenn wir acht­sam sind, dann unter­schei­den wir nicht mehr zwi­schen dem Hei­li­gen und dem Pro­fa­nen. Wir erfah­ren die Hei­lig­keit in allem. Sie kön­nen Ihren Tee unacht­sam trin­ken. Sie sind zwar da, aber Sie sind nicht wirk­lich da. Sie sind ganz von Ihrer Furcht und Ihrem Ärger absor­biert. Dann trin­ken Sie nicht wirk­lich Ihren Tee, son­dern Sie trin­ken Ihre Furcht und Ihren Ärger. Das Leben ist nicht wirk­lich da. Acht­sam­keit führt sie dort­hin zurück – in die Gegen­wär­tig­keit des Hier und Jetzt. Dort ent­hüllt sich Ihnen ihr wah­res Wesen – und die Ver­bun­den­heit Ihres wah­ren Wesens mit allem was lebt. Das ist im Übri­gen der Grund, war­um Acht­sam­keit die Macht hat, uns von Tod und Nicht­sein zu erret­ten. Sie erlaubt es uns, wirk­lich da zu sein, leben­dig. Wenn es uns gelingt, in per­ma­nen­ter Acht­sam­keit zu leben, dann wächst uns eine Weis­heit zu, die uns befreit.

Befreit wovon?

Befreit vom Lei­den. Das Lei­den kann etwas Posi­ti­ves sein. Schau­en Sie eine Blu­me an. Wenn Sie sich auf die Blu­me ein­las­sen, erken­nen Sie zunächst, dass sie exis­tiert. Und dann sehen Sie, dass die Blu­me ein Wun­der ist. Sie begrei­fen an der Blu­me, dass das Reich Got­tes da ist. Die Blu­me ist im Reich Got­tes. Das Reich Got­tes ist nicht ein­fach nur eine Idee. Es ist nicht etwas, das in der Zukunft liegt. Es ist etwas, dass Sie berüh­ren kön­nen – wenn Sie acht­sam sind. Wenn Sie acht­sam sind, wird Ihnen bewusst, dass das Reich Got­tes im Hier und Jetzt ist. Wenn Ihnen das bewusst sind, erken­nen Sie, dass das Reich Got­tes hier und jetzt zugäng­lich ist – hier und jetzt, oder nie. Acht­sam­keit führt Sie zu die­ser Kon­zen­tra­ti­on auf das Inne­re. Sie führt sie sehr rasch in das Reich Got­tes. Wenn Sie dort ange­kom­men sind, wird vie­les von dem neben­säch­lich, was Ihnen frü­her wich­tig schien: Ruhm, Wohl­stand, Sex, Macht – all das, was uns lei­den ver­ur­sacht, wenn wir auf es fixiert sind.

Sie reden vom Reich Got­tes, als sei es ein zen­tra­ler Aspekt Ihrer Reli­gi­on. Dabei ist es eine Vor­stel­lung, die aus dem Chris­ten­tum kommt. Soll­ten die christ­li­chen Kir­chen eine Spi­ri­tua­li­tät der Acht­sam­keit lehren?

Ja, ich glau­be es ist Auf­ga­be der Kir­chen, den Men­schen eine Leh­re und eine Pra­xis anzu­bie­ten, die sie dar­in unter­stützt, mit dem Reich Got­tes in Berüh­rung zu kom­men. Und die Ver­tre­ter der Kir­che soll­ten die­se Leh­re und die­se Pra­xis glaub­haft ver­kör­pern. Damit die jun­ge Gene­ra­ti­on weiß, wohin sie gehen soll und wor­an sie sich hal­ten kann. Das ist aber auch der Grund dafür, dass Acht­sam­keit, Kon­zen­tra­ti­on und Ein­sicht nicht nur für Bud­dhis­ten eine Übung sind; denn jeder Mensch hat das Ver­mö­gen, acht­sam und kon­zen­triert zu sein – und den Weg nach Innen anzutreten.

Acht­sam­keit ist eine spi­ri­tu­el­le Pra­xis, die sich in allen Reli­gio­nen findet?

Wir soll­ten uns nicht durch Wor­te und Argu­men­te von ein­an­der tren­nen. Wir soll­ten uns dar­um bemü­hen, mit der Rea­li­tät in Berüh­rung zu kom­men. Und das ist es, was uns die Acht­sam­keit erlaubt. Wir kön­nen in jedem Moment Acht­sam­keit üben, eben­so Kon­zen­tra­ti­on, eben­so Ein­sicht. In gewis­ser Hin­sicht kön­nen wir sagen: Acht­sam­keit, Kon­zen­tra­ti­on und Ein­sicht sind gleich­be­deu­tend mit dem, was die christ­li­che Tra­di­ti­on den „Hei­li­gen Geist“ nennt. Wenn immer Sie acht­sam und kon­zen­triert sind, dann ist Gott in Ihnen. Und wenn Gott in Ihnen ist, dann sind Sie sicher. Und leben­dig. Sie kön­nen dabei unter­schied­li­che reli­giö­se Tra­di­tio­nen und Ter­mi­no­lo­gien auf­grei­fen – was zählt ist, dass Sie dabei die Rea­li­tät berüh­ren. Denn nur die Rea­li­tät macht Sie frei und neu und lebendig.

Wir kön­nen über die Erfah­rung der Rea­li­tät auf unter­schied­li­che Wei­se reden. Aber sie ist doch eine Erfah­rung, die jeder­mann offen steht. Man muss dafür nicht­mals reli­gi­ös sein.

Wir haben ja dar­über gespro­chen, dass der Unter­schied zwi­schen Hei­lig und Pro­fan neben­säch­lich wird, wenn wir in der Ener­gie der Acht­sam­keit sind. Spi­ri­tu­el­le Men­schen nen­nen die­se Ener­gie Gott. Aber das ist nur eine Idee. Denn wenn wir Gott als Acht­sam­keit, Kon­zen­tra­ti­on und Ein­sicht beschrei­ben, dann ist klar, dass Spi­ri­tua­li­tät Gott ist. Das mag dem zuwi­der­lau­fen, was wir uns unter Gott und dem Reich Got­tes vor­stel­len. Aber es sind gera­de unse­re Begrif­fe, Ideen und Kon­zep­te, die uns von die­ser Wirk­lich­keit fern­hal­ten. Des­we­gen hilft uns, mit ande­ren zusam­men sein und von ihnen zu ler­nen. Wenn wir uns mit ande­ren aus­tau­schen, wer­den wir unser Leben auf eine acht­sa­me und unge­trenn­te Wei­se leben. Und das ist der ein­zi­ge Weg, der uns aus der Angst und Ver­lo­ren­heit befreit, denen wir sonst wegen unse­ren Kon­zep­ten aus­ge­setzt sind. Das ist der ein­zi­ge Weg, der uns unse­re Ver­bun­den­heit zu Bewusst­sein bringt.

Ist die Übung der Medi­ta­ti­on eine gute Basis, auf der sich Men­schen aus unter­schied­li­chen Tra­di­tio­nen begeg­nen können?

Medi­ta­ti­on mag eine gute Übung sein. Aber Acht­sam­keit ist bes­ser. Denn für eine Medi­ta­ti­on brau­chen wir bestimm­te Vor­aus­set­zun­gen: einen ruhi­gen Ort, eine ruhi­ge Zeit, in der wir uns von unse­ren Gedan­ken befrei­en. Acht­sam­keit hin­ge­gen fin­det in jedem Moment unse­res täg­li­chen Lebens statt. Sie kön­nen acht­sam ein­kau­fen gehen, acht­sam auto­fah­ren, acht­sam Ihren Part­ner behan­deln, acht­sam Ihren Tee trin­ken. Das ist sehr spi­ri­tu­ell. Es ist eine Medi­ta­ti­on in sich. Wenn wir Medi­ta­ti­on als eine Übung ver­ste­hen, bei der wir mit dem, was ist, in Berüh­rung kommen.

Was emp­feh­len Sie, wenn Men­schen ent­de­cken wol­len, was sie in der Tie­fe verbindet?

Wenn sie etwas wirk­lich Nütz­li­ches tun und dabei kei­ne Zeit ver­lie­ren wol­len, dann soll­ten sie zunächst sich und die ande­ren dar­über auf­klä­ren, was es mit dem Glück auf sich hat. Jeder Mensch möch­te glück­lich sein. Vie­le stre­ben nach Ruhm und Macht und Geld. Aber sie sind nicht in der Lage, im Augen­blick glück­lich zu sein. Sie het­zen stän­dig her­um. Das ist eines der Haupt­kenn­zei­chen unse­rer Zivi­li­sa­ti­on. Des­halb soll­ten wir früh damit begin­nen – als Eltern und Leh­rer – unsern Kin­dern ein Vor­bild zu sein. Wir soll­ten ihnen zei­gen, dass es mög­lich ist, glück­lich zu sein und zu lie­ben, ohne stän­dig her­um zu het­zen, um mehr Geld und Wohl­stand zu ergat­tern. Damit soll­ten wir anfan­gen: Vor­ma­chen, dass wir im Hier und Jetzt glück­lich sein kön­nen; dass wir aus der Prä­senz im Hier und Jetzt die Kraft ent­wi­ckeln zu lie­ben und uns selbst und den ande­ren zuzu­wen­den; dass wir damit auf­hö­ren kön­nen, durchs Leben zu het­zen. Wenn wir die­sen Punkt erreicht haben, kön­nen wir die Welt ret­ten; dann kön­nen wir wirk­lich die Grün­de für den Kli­ma­wan­del behe­ben. Denn dann ver­geu­den wir unse­re Ener­gie nicht mehr, weil wir erkannt haben, dass das Wun­der des Lebens längst da ist – dass das König­reich Got­tes unter uns ist – dass genü­gend für alle da ist, um hier und jetzt glück­lich zu sein. Das ein­zi­ge was Not tut ist „Stopp“. Auf­hö­ren ist der Schlüs­sel. Es wird immer Men­schen mit unter­schied­li­chen reli­giö­sen Tra­di­tio­nen geben. Sie wer­den immer ihre Anhän­ger auf unter­schied­li­che Wei­se erzie­hen. Nie­mand muss sei­ne Her­kunft ver­leug­nen. Denn in allen Tra­di­tio­nen gibt es ähn­li­che Leh­ren und Übun­gen. Und in ihnen allen gibt es Ein­sicht und Ver­ste­hen. Alle wei­sen Wege zu Glück. Wenn Sie in Ihrer Tra­di­ti­on vor­an­ge­kom­men sind und Tie­fe und Ein­sicht erlangt haben, dann ist es gut, ande­re reli­giö­se Tra­di­tio­nen ken­nen zu ler­nen und gemein­sam zu fei­ern und zu beten. Auf die­ser Basis macht die Begeg­nung der Reli­gio­nen Sinn. Ande­ren­falls ist sie nutzlos.

Für wech­sel­sei­ti­ge Inspi­ra­ti­on und spi­ri­tu­el­le Unter­stüt­zung ist die inter­re­li­giö­se Begeg­nung wichtig?

Ja, es ist nicht wich­tig in Kon­fe­ren­zen zusam­men zu kom­men, son­dern dort, wo man ist. Wenn das gelingt, ist es gut, sich gegen­sei­tig ein­zu­la­den und Men­schen die Mög­lich­keit zu geben, am eige­nen spi­ri­tu­el­len Leben teil­zu­neh­men – sich bes­ser ken­nen zu ler­nen. Dabei kommt mehr her­aus, als viel Geld, Zeit und Ener­gie für die Orga­ni­sa­ti­on gro­ßer Kon­fe­ren­zen auf­zu­wen­den, die allen­falls schö­ne Papie­re produzieren.

Die Welt von heu­te lei­det unter einer Wirt­schafts­ord­nung, die uns zu unge­brems­tem Kon­sum auf­for­dert. Sie emp­feh­len dage­gen ein acht­sa­mes Kon­su­mie­ren. Was ver­ste­hen Sie darunter?

Acht­sa­mes Kon­su­mie­ren könn­te ein Aus­weg sein. Es soll­te ein Aus­weg sein. Unser gewöhn­li­cher Kon­sum wird meis­tens von Angst getrie­ben. Aus Angst schie­len wir nach Geld, aus Angst kon­su­mie­ren wir. Immer sitzt uns die Sor­ge um unse­ren Lebens­un­ter­halt im Nacken. Des­halb ist es sehr wich­tig, sich Zeit zu neh­men – sich hin­zu­set­zen und in uns hin­ein­zu­hor­chen: Was ist unser ursprüng­li­ches Begeh­ren? Es ist das Begeh­ren zu über­le­ben. In dem Moment, in dem wir gebo­ren wer­den, sind wir ganz ver­letz­lich. Unse­re Nabel­schnur wird getrennt und wir müs­sen selb­stän­dig atmen. Unse­re Lun­gen sind noch nicht auf­ge­fal­tet. Wir rin­gen um Atem. Es ist sehr ris­kant, ein Wag­nis. In die­sem Augen­blick dringt die­se Grund­angst in uns ein. Und die Grund­sehn­sucht zu über­le­ben. Von die­sem Augen­blick an beherr­schen sie uns. Bis wir uns hin­set­zen und sie anschau­en. Das tun wir in der Medi­ta­ti­on. In der Medi­ta­ti­on machen wir uns klar, was in uns vor­geht. In ihr erken­nen wir, dass unser Ver­hal­ten von die­ser Grund­angst und die­ser Grund­sehn­sucht kon­di­tio­niert ist. Haben wir aber ver­stan­den, dass sie uns beherr­schen, ver­lie­ren sie ihre Macht über uns.

Inwie­fern?

Wir ver­ste­hen, dass unse­re Angst aus den trau­ma­ti­schen Kind­heits­er­fah­run­gen her­rührt. Wir sind aber inzwi­schen erwach­sen. Und als Erwach­se­ne kön­nen wir wis­sen, dass es kei­nen Grund gibt, sich zu ängs­ti­gen. Wir sind in der Lage, selbst auf uns acht­zu­ge­ben und ande­ren Men­schen bei­zu­ste­hen. Die­se Ein­sicht befreit uns von der Furcht. Uns befreit das Wis­sen: Ich bin ein sterb­li­ches Wesen. An die­ser Tat­sa­che kom­me ich nicht vor­bei. Eben­so wenig an der Tat­sa­che, dass ich erkran­ken wer­de. Ich kann Krank­hei­ten nicht ent­kom­men. Auch liegt es in mei­ner Natur zu altern. Ich kann das Alter nicht ver­mei­den. Eines Tages wer­de ich all mei­ne Lie­ben ver­las­sen. Ich kann die­sem Abschied nicht ent­ge­hen. Vor alle­dem fürch­te ich mich. Aber es ist mei­ne Auf­ga­be, die­se Furcht zu erken­nen. Dazu dient die Medi­ta­ti­on. Sie hilft mir, tief in mei­ne eige­ne Natur zu schau­en: in mei­ne Natur als gebo­re­nes und sterb­li­ches Wesen. So kann ich die Furcht in mir tran­szen­die­ren. Mir scheint, dass die moder­ne Psy­cho­the­ra­pie dabei gute Diens­te erwei­sen kann.

Und wenn uns das Grund­be­geh­ren und die Grund­sehn­sucht nicht mehr vor sich her trei­ben – dann kön­nen wir der Spi­ra­le des Kon­sums entkommen?

Unser Kon­sum­ver­hal­ten wird ange­trie­ben durch die Angst vor Ein­sam­keit und Sinn­lo­sig­keit. Gewöhn­lich haben wir kei­ne Mit­tel, uns irgend­wie zu die­ser Angst zu ver­hal­ten. Und des­halb kon­su­mie­ren wir unge­bremst wei­ter. Wenn wir kon­su­mie­ren, beschwich­ti­gen wir die inne­re Lee­re, die Ein­sam­keit und die Furcht in uns. Das Pro­blem dabei ist, dass wir durch die­sen unbe­wuss­ten Kon­sum immer mehr Gif­te in unse­ren Kör­per und unse­ren Geist auf­neh­men. Kon­sum ist also kei­ne Lösung. Das zu erken­nen – wirk­lich zu erken­nen – ist sehr wichtig.

Wel­che Art von Kon­sum kön­nen wir dem ent­ge­gen setzen?

In der bud­dhis­ti­schen Tra­di­ti­on spre­chen wir von den 4 Nah­rungs­mit­teln. Das ers­te ist die kör­per­li­che Nah­rung. Wir soll­ten acht­sam essen und trin­ken. Wir soll­ten dar­auf ach­ten, kei­ne Gif­te in unse­ren Kör­per zu las­sen. Wenn wir acht­sam essen und trin­ken, dann stär­ken wir dar­in unser Mit­ge­fühl. Wir wer­den dann nicht gedan­ken­los das Fleisch unse­rer Brü­der und Schwes­tern essen. Die zwei­te Nah­rung sind unse­re Sin­nes­ein­drü­cke. Wir kon­su­mie­ren bei allem, was wir hören, rie­chen oder sehen. Auch wenn wir die Zei­tung lesen, kon­su­mie­ren wir. Wenn wir Wer­bung anse­hen, kon­su­mie­ren wir. Wenn wir Musik hören, kon­su­mie­ren wir. Und selbst wenn wir mit­ein­an­der Kon­ver­sa­ti­on trei­ben, kon­su­mie­ren wir. Kon­ver­sa­ti­on kann unter­schied­lich auf uns wir­ken: Sie kann Ärger in uns ver­ur­sa­chen, sie kann uns ver­zwei­feln las­sen, sie kann uns betrü­ben. Und so geht es uns bei jeder Form des Konsumierens.

Außer beim acht­sa­men Konsum?

Ja, es ist ganz wich­tig, dass wir unse­re Sin­nes­ein­drü­cke acht­sam kon­su­mie­ren – dass wir dar­auf ach­ten, kei­ne nega­ti­ven Emo­tio­nen und Ängs­te zu kon­su­mie­ren: nicht zu hören, nicht zu sehen, kei­ne Auf­merk­sam­keit zu schen­ken. Auf die­se Wei­se kön­nen wir uns schüt­zen: uns, unse­re Fami­li­en, unse­re Gesell­schaft. Es ist nicht gut, dass wir unse­re Kin­der durch­schnitt­lich zwei Stun­den am Tag fern­se­hen las­sen. Auf die­se Wei­se gerät viel Gift in ihren Kör­per und ihren Geist. Acht­sa­mes Kon­su­mie­ren schützt davor. Es ist ein Schutz­schild. Ohne acht­sa­men Kon­sum fehlt uns die­ser Schutz.

Es gibt dann noch zwei wei­te­re For­men der Nahrung?

Die drit­te Art der Nah­rung ist die geis­ti­ge Nah­rung. Sie hat mit unse­rem Begeh­ren und unse­rer Sehn­sucht zu tun. Unse­re tiefs­te Sehn­sucht soll­te umfas­send sein: eine umfas­sen­de Lie­be zu unse­rem Pla­ne­ten – der Wunsch, ihn zu ret­ten. Die­ser Wunsch soll­te unse­rem Kon­sum zu Grun­de lie­gen. Nicht der Wunsch zu zer­stö­ren, zu stra­fen, Rache zu üben. Genau die­se Wün­sche aber wecken wir in den See­len unse­rer Kin­der, wenn wir sie Zorn, Hass und Aggres­si­on kon­su­mie­ren las­sen. Wir müs­sen ihnen eine ande­re Nah­rung bie­ten: einen umfas­sen­den, posi­ti­ven Kon­sum. Und die vier­te Art der Nah­rung ist die Nah­rung des Bewusst­seins. Wenn Sie mit einer Grup­pe leben, dann neh­men sie deren Bewusst­sein auf. Sie kon­su­mie­ren das Grup­pen­be­wusst­sein. Sie wer­den zu einem Bru­der im Geis­te der Grup­pe. Davor soll­ten Sie sich schüt­zen. Sie soll­ten Orte mei­den, an denen die Men­schen sich betäu­ben. Gehen Sie lie­ber an Orte, an denen sie Men­schen mit Mit­ge­fühl und kla­rem Geist tref­fen. Damit Sie deren Bewusst­sein kon­su­mie­ren. Ich mei­ne, die­se Leh­re von den vier Arten des Kon­sums soll­te beherzt wer­den: Wir soll­ten acht­sa­men Kon­sum erler­nen. Nur so kön­nen wir unse­ren Pla­ne­ten und unse­re Umwelt ret­ten. Jede Tra­di­ti­on hat genug Weis­heit dafür

(Inter­view aus dem Jahr 2003, ver­öf­fent­licht in „Unse­re Welt ist hei­lig. Gesprä­che auf dem Weg zu einer glo­ba­len Spiritualität“