Darf ich ein Vermögen für mein krankes Tier ausgeben?

NEIN
Der Arzt und Den­ker Albert Schwei­zer saß einst an Deck eines Kahns, der ihn zu einer ent­le­ge­nen Mis­si­ons­sta­ti­on in Zen­tral­afri­ka brin­gen soll­te. Der Kopf war ihm schwer, die Hit­ze drück­te uner­träg­lich. Da sah er vor sich auf einer Sand­bank vier Nil­pfer­de mit ihren Jun­gen. »Da kam ich«, erzählt er, »in mei­ner gro­ßen Müdig­keit und Ver­zagt­heit plötz­lich auf das Wort ›Ehr­furcht vor dem Leben‹«. 
Auf eben die­ses Wort kann heu­te kom­men, wer davon liest und hört, dass Men­schen gro­ße Sum­men inves­tie­ren, um ihre kran­ken Haus­tie­re inva­siv- oder inten­siv­me­di­zi­nisch betreu­en zu las­sen. Denn unab­weis­bar drän­gen sich da Fra­gen auf: Zeugt es von gesun­der Ehr­furcht vor dem Leben, sei­ne Kat­ze einer Krebs­ope­ra­ti­on zu unter­zie­hen? Ist es ethisch ver­tret­bar, sei­nem Hund ein neu­es Hüft­ge­lenk einzubauen?
Die Fra­gen sind gewich­tig. Denn, so ist man leicht ver­sucht zu mei­nen, wer sein Tier liebt, kann nicht dafür geta­delt wer­den, dass er Geld – und sei es noch so viel – dafür inves­tiert, es am Leben zu erhal­ten. Selbst, wenn die Mit­tel knapp sind und man sich die Fra­ge stel­len muss, ob es nicht sinn­vol­ler wäre, das Geld not­lei­den­den Art­ge­nos­sen – kran­ken Kin­der etwa – zuzu­wen­den: selbst dann scheint die Lie­be zum Tier ein uner­schüt­ter­li­ches Argu­ment dafür zu sein, kei­ne Kos­ten für sein Wohl zu scheuen.
Doch ganz so ein­fach ist es nicht. Was Albert Schwei­zer for­der­te – und es gibt guten Grund ihm dar­in bei­zu­pflich­ten – war nicht Tier­lie­be, son­dern Ehr­furcht vor dem Leben. Und das ist etwas ande­res, denn Ehr­furcht vor dem Leben gebie­tet, bei unse­ren Hand­lun­gen und Ent­schei­dun­gen am Leben selbst Maß zuneh­men und nicht an unse­ren eige­nen, zuwei­len selbst­süch­ti­gen Emo­tio­nen. Wenn man am Leben selbst Maß nimmt, wird man jedoch ein­ge­ste­hen müs­sen, dass Tod und Lei­den unent­wirr­bar mit dem Leben ver­wo­ben sind – und dass es gera­de nicht von Ehr­furcht vor dem Leben zeugt, wenn man Hoch­leis­tungs­me­di­zin und Tech­nik auf­fährt, um irgend­wie den Tod, der unaus­weich­lich ist, ein wenig aufzuschieben.
Ehr­furcht vor dem Leben ist immer auch Ehr­furcht vor dem Lei­den und Ehr­furcht vor dem Ster­ben. Ehr­furcht vor dem Ster­ben aber lässt nicht zu, das Ster­ben eines Tie­res künst­lich zu ver­län­gern, indem man mit teu­rer Tech­nik in den natür­li­chen Lauf des Lebens ein­greift. Wenn Tie­re ster­ben müs­sen, sagt ihr Instinkt ihnen, dass es so weit ist. Dann gehen sie nicht zum Arzt, son­dern zie­hen sich lang­sam zurück. Sie haben – nach allem was wir wis­sen – kein Bewusst­sein ihres Ster­ben­müs­sens, aber sie haben ein Gefühl, dass sie schlaf­wand­le­risch auf ihren letz­ten Weg ein­schwen­ken lässt. War­um soll­ten wir sie mit unse­rer Tech­nik davon abbrin­gen? Der Ehr­furcht vor dem Leben wür­de es ent­spre­chen, das Tier nicht auf­zu­hal­ten, son­dern auf dem Weg des Ster­bens zu beglei­ten – ger­ne mit natur­heil­kund­li­chen Mit­teln, die das Lei­den lin­dern, aber nicht mit teu­rer Inten­siv­me­di­zin, die zuletzt doch nur dem Bank­kon­to des Vete­ri­närs zugu­te kommt.
»Ich lie­be mei­ne Kat­ze aber doch so sehr, da kann ich sie doch nicht so ein­fach ster­ben las­sen«, empört sich womög­lich eine Stim­me in Ihnen? Dies ist nicht die Ehr­furcht vor dem Leben, die so spricht, son­dern die ins Gewand ver­meint­li­cher Lie­be gehüll­te Angst vor dem eige­nen Tod, die nichts und nie­mand gehen las­sen kann und sich an alles klam­mert, was ihr Halt gewährt. Es ist die Angst des Egos vor dem Ende, die so spricht. Die rei­fe Lie­be eines rei­fen Men­schen tickt ganz anders: Sie ist dadurch geadelt, dass sie gehen las­sen kann: ein Tier nicht anders als den Men­schen, den sie liebt.
Albert Schweit­zer (1875–1965)
Er war evan­ge­li­scher Theo­lo­ge und Pia­nist, Arzt und Phi­lo­soph. Und dar­über hin­aus ein muti­ger und lie­bens­wer­ter Mensch, der sich nicht nur für lei­den­de Men­schen in Afri­ka ein­setz­te, indem er vor Ort in sei­ner berühm­ten Kli­nik von Lam­ba­ré­né im heu­ti­gen Gabun Hand anleg­te, son­dern auch gegen die Ver­brei­tung von Atom­waf­fen ein­trat. Die­ses Enga­ge­ment trug ihm 1953 den Frie­dens­no­bel­preis ein. Getra­gen war sein Enga­ge­ment von der Idee der »Ehr­furcht vor dem Leben«.
(Erschie­nen in der Hap­py-Way-Rubrik »Frag den Philosophen«)