Die Tugend des Wirtschaftens
Zu den Irrtümern des modernen Menschen gehört der Glauben, die Art und Weise, wie sei Wirtschaft treiben, sei das Wirtschaften an sich – ganz so, als folgte dieses Wirtschaften genauso ewigen, unwandelbaren Gesetzen wie die Kräfte der Physik. Ein Blick in die Geschichte lehrt jedoch, dass die Menschen zwar immer schon gewirtschaftet haben, mitnichten aber immer so, wie die Menschheit im 21. Jahrhundert. Die Geschichte der Wirtschaft ist wie die Geschichte der Politik, der Wissenschaft oder der Religion eine Geschichte voller Umbrüche und Paradigmenwechsel. Das ist eine gute Nachricht, denn sie macht uns darauf aufmerksam, dass die neoliberalistisch-kapitalistische Marktwirtschaft der Gegenwart nicht in Stein gemeißelt ist. Wie für alle Dinge des Lebens, so gilt auch fürs Wirtschaften: Es geht immer auch anders bzw. es ging auch schon mal anders.
Zum Beispiel im alten Griechenland. Das lehrt Aristoteles im 1. Buch seiner Politik. In ihm findet man die älteste ökonomische Reflektion der europäischen Geistesgeschichte. Es geht ihm dort darum herauszufinden, was es mit der oikonomía auf sich hat – den Prinzipien (nomía) der guten Führung eines Hauses (oíkos). Oikonomía meint nichts anderes als die Kunst der Haushaltsführung, wobei man sich einen antiken griechischen oíkos als mittelständischen Betrieb denken darf, in dem Familienmitglieder, Angestellte und Sklaven gemeinsam – in Landwirtschaft oder Handwerk – lebten und arbeiteten. Auch wenn ein solcher oíkos anders organisiert war als ein Betrieb der Gegenwart, ist es nicht falsch, in ihm die Ursprungsform eines Unternehmens zu erkennen.
Die Fragen, die Aristoteles umtreiben, lauten: Was ist das Ziel eines Unternehmens? Was zeichnet ein gutes Unternehmen aus? Was ist die Tugend eines Unternehmers? … oder einer Unternehmerin, denn im alten Athen oblag die oikonomía in der Regel den freien Bürgersfrauen. Die Antwort des Aristoteles lautet: autarkeía – ein Wort, das zu übersetzen dadurch nicht leichter wird, dass es als Lehnwort Autarkie in unserer Sprache weiterlebt.
Wenn Aristoteles nach dem Ziel des Wirtschaftens fragt, dann geht es ihm darum, dessen aretē – Tugend – zu ermitteln: den Zustand zu beschreiben, in dem ein Unternehmen seinem Sinn entspricht. Wann also ist ein Unternehmen sinnvoll? Aristoteles sagt: der Sinn des Wirtschaftens besteht darin, für die Menschen, die in einem oíkos zusammenleben und -arbeiten die Rahmenbedingungen zu schaffen, die sie für ein gutes Leben brauchen: nicht weniger, aber auch nicht mehr. Wahrer Reichtum, so der Denker, bemisst sich nach dem guten Leben der Menschen, nicht nach dem Vermögen des Eigentümers.
Ferner stellt Aristoteles fest, dass der Wohlstand einem Unternehmen und den Menschen nutzlos ist, wenn sie unfrei sind: abhängig von Geldgebern, Investoren, Lieferanten etc. Frei ist griechisch gedacht nur, wer aus eigenen Stücken die Rahmenbedingungen für das gute Leben sicherstellen kann: wer möglichst alle Ressourcen, die er für dafür braucht, selbst produzieren kann; und das nicht nur heute und morgen, sondern auch in Zukunft. Nachhaltig wirtschaften, naturgemäß wirtschaften, selbstgenügsam wirtschaften, unabhängig wirtschaften: Das alles ist im Ideal der autarkeía vereint.
Eine philosophische Fiktion? Mitnichten: Über Jahrhunderte wurde in der Antike auf die von Aristoteles beschriebene Weise erfolgreich gewirtschaftet. Eine exponentielle Steigerung der Wirtschaftskraft ist dabei nicht entstanden, dafür aber hatten die Betriebe eine viel höhere Lebensdauer als heutige Unternehmen. Das bezeugen noch immer die ältesten Unternehmen der Welt: die Klöster. Benedikt von Nursia hielt sich in seiner Ordensregel treu an Aristoteles. Jede Abtei ist vollkommen autark, sodass ihre Bewohner dem nachgehen können, was sie als gutes Leben kennen. Man muss ihrem Ideal nicht folgen, um zu begreifen, dass die ökonomische Idee im Hintergrund noch immer sinnvoll ist: nicht Profit oder das bloße Leben ist, wie Aristoteles meinte, sind der Sinn des Wirtschaftens, sondern das gute Leben in Freiheit und im Einklang mit der Natur.
Θhink Greek! Denn das Älteste ist zuweilen das Frischste.
Herzlich, Christoph Quarch
(veröffentlicht in der Zeitschrift „Abenteuer Philosophie“)
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