Auf der Suche nach dem Wesentlichen

Ein­drü­cke von einer Wan­de­rung in Nepal – Teil 1

Der Hima­la­ya: die höchs­ten Ber­ge der Welt, Hei­mat mythi­scher Kul­tu­ren, Hort des ursprüng­li­chen Lebens. Seit ich 1994 das damals von den chi­ne­si­schen Okku­pa­to­ren noch nicht voll­ends zer­stör­te Tibet besucht und 1999 mit einem Freund in Nepal das Anna­pur­na Mas­siv umrun­det hat­te, blieb es immer mei­ne gro­ße Sehn­sucht, noch ein­mal die Magie der eis­be­deck­ten Gip­fel zu erle­ben und in mein per­sön­li­chen Shan­gri-La zurück­zu­keh­ren. Bür­ger­krie­ge, Erd­be­ben und Covid lie­ßen dies mehr als 20 Jah­re lang nicht zu, und so brauch­te es bis zu die­sem Früh­jahr, dass ich mit mei­ner Frau und mei­nen erwach­se­nen Kin­dern erneut nach Nepal rei­sen konn­te, um dort in knapp zwei Wochen den acht­höchs­ten Berg der Erde zu umrun­den: den Manas­lu, den See­len­berg, wie sein Name ins Deut­sche über­tra­gen wer­den kann.

Eine sol­che Wan­de­rung ist etwas ande­res als eine Hüt­ten­tour in den Alpen. Nicht nur wegen der Län­ge und der Höhe – immer­hin galt es mit dem Lar­ke La einen fast 5200 Meter hohen, ver­glet­scher­ten Pass zu über­que­ren –, son­dern wegen der Inten­si­tät der Erfah­rung. Der Weg durch den Hima­la­ya führt immer auch nach innen: Du kommst in Kon­takt mit ande­ren Kul­tu­ren; dir begeg­nen Men­schen, die immer noch so leben wie ihre Urur­groß­el­tern; du betrittst eine Welt, in der es noch so etwas wie eine leben­di­ge Reli­gi­on mit all ihren Riten und Fes­ten gibt. Du siehst aber auch das Vor­drin­gen des soge­nann­ten Fort­schritts: Stra­ßen wer­den gebaut, Press­luft­häm­mer dröh­nen in der gren­zen­lo­sen Stil­le der Berg­tä­ler, Plas­tik­müll brei­tet sich epi­de­misch aus, selbst die Maul­tier­trei­ber in den Hoch­tä­lern haben ein Han­dy am Ohr. All das gibt zu den­ken. All das macht dich nach­denk­lich. All das wirft Fra­gen auf.

Da ist es gut, dass dich die Umstän­de einer sol­chen Wan­de­rung dazu zwin­gen, sich aufs Wesent­li­che zu beschrän­ken. Der Weg in die Berg­welt des Hima­la­ya ist nicht nur ein Weg nach innen, er ist zugleich ein Weg hin­aus aus der Kom­fort­zo­ne: ein Weg in die Ein­fach­heit und Karg­heit – ein Weg, der dich ein­lädt, ein wenig von der Ursprüng­lich­keit des Lebens der Berg­be­woh­ner am eige­nen Lei­be zu erfah­ren. In unge­heiz­ten Räu­men, in denen nur dein Dau­nen­schlaf­sack dir ein Gebor­gen­heit in Aus­sicht stellt, unter eis­kal­ten Duschen, bei schlich­ter Kost. Doch eben die­se Reduk­ti­on auf das Basa­le und das Wesent­li­che, ist – bei aller Anstren­gung des Wan­derns in der gro­ßen Höhe – Erho­lung für den Geist und für die See­le. Mit den schwin­den­den Annehm­lich­kei­ten der Zivi­li­sa­ti­on wird dein Blick kla­rer. Dein Geist wird fokus­sier­ter, dei­ne See­le wird emp­find­sa­mer. Mit einem Wort: Du kehrst zurück in die Ursprüng­lich­keit der mensch­li­chen Leben­dig­keit. Und das ist gut so. – Auch wenn es einem in schlaf­lo­ser Nacht auf stei­ni­gem Boden in 4600 Metern Höhe nicht immer so vorkommt…

Was ist wesent­lich im Leben eines Men­schen? Zwi­schen den 8000ern des Hima­la­ya liegt die Ant­wort auf der Hand: Ver­bun­den­heit. Ver­bun­den­heit mit der Natur, gegen die kein Mensch bestehen kann – mit der zu leben und sich ihrer anzu­pas­sen aber selbst unter den kargs­ten Ver­hält­nis­sen das Leben mög­lich macht. Ver­bun­den­heit mit sei­nes­glei­chen. Wir wur­den Zeu­gen eines Fes­tes, das die Ein­hei­mi­schen fei­er­ten – ein Fest mit Sport und Spiel. Die Bewoh­ner aus den ver­schie­de­nen Dör­fern des Hoch­tals kamen in ihren schöns­ten Klei­dern zusam­men und teil­ten die Freu­de des arbeits­frei­en Tages. Gewiss gibt es auch hier zuwei­len Streit und Rei­be­rei­en, doch der Gemein­sinn über­wiegt ganz offen­sicht­lich. Wie soll­te es auch anders sein, in einer Welt, in der man ohne Soli­da­ri­tät nicht leben kann? Ver­bun­den­heit auch mit den Tie­ren, und das in einem Maße, das wir uns, die wir allen­falls noch Hun­de und Kat­zen ken­nen, nicht mehr vor­stel­len kön­nen. Die Men­schen leben hier mit ihren Yaks und Zie­gen, ihren Mulis und Scha­fen. Sie schmü­cken sie, bevor sie sie zur Arbeit schi­cken. Sie las­sen sich auf deren Lebens­rhyth­mus ein, und wer dort oben lebt, in des­sen See­le spie­gelt sich die Ruhe und Gelas­sen­heit der Yaks. Vor allem aber lebt der Mensch der Ber­ge des Hima­la­ya in Rück­bin­dung an das Sub­li­me, Geis­ti­ge und Gött­li­che. Und dar­in liegt die wun­der­ba­re Kraft und Schön­heit die­ser Völ­ker. Sie umge­ben sich über­all mit bun­ten Gebets­fah­nen, an den Ein­gän­gen zu ihren Dör­fern rotie­ren die Gebets­müh­len, in lan­gen Rei­hen sind am Weges­rand ihre in Stein gra­vier­ten hei­li­gen Tex­te auf­ge­baut. Und in jedem Dorf schim­mert, wenn auch noch so klein, die Kro­ne eines Stupa.

All das lässt dich ahnen, was die Ant­wort auf die Fra­ge ist, die dich dort oben umtreibt: Was ist wesent­lich? Wesent­lich ist das, was in der Ein­fach­heit und Karg­heit eines Lebens fern dei­ner Kom­fort­zo­ne auf­scheint. Wesent­lich ist, was dich rück­bin­det und ein­bin­det in das Geflecht des Lebens – phy­sisch und geis­tig, emo­tio­nal und spi­ri­tu­ell. Wesent­lich ist, was dich fern allen Wohl­stands und fern aller mate­ri­el­len Güter zu einem Men­schen macht.