6. Digital ist großartig, ersetzt aber nicht analog

Wenn es einen echten Krisengewinner in Corona-Zeiten geben wird, dann dürften dies neben der Desinfektionsmittel- und Schutzkleidungsindustrie diejenigen Unternehmen sein, die im Internet digitale Lernplattformen, Konferenzräume, Virtual-Reality-Spaces oder andere soziale Begegnungsorte anbieten. Und das zu Recht, denn diesen Firmen dürfen wir dankbar sein, dass sie uns im virtuellen Raum mit einem digitalen und vor allem keimfreien Substitut für die physische menschliche Begegnung ausstatten. So kann das soziale Leben weitergehen, ja zuweilen sogar intensiviert werden. Viele Menschen werden infolge dessen in diesen Wochen die Erfahrung machen, dass Videokonferenzen kein Teufelswerk sind und dass man auch mit Webinaren Kenntnisse und Wissen transportieren kann – um nur zwei Beispiele zu nennen.

Angesichts der zu erwartenden Dauer der Corona-Krise ist damit zu rechnen, dass die Menschen sich zunehmend an solche digitalen Räume und Plattformen gewöhnen werden. Aus diesem Grund werden nicht alle in der Nach-Corona-Zeit den Weg zurück in den analogen Raum wählen – was angesichts der ökologischen Vorteile virtueller Begegnungen nicht die schlechteste Nachricht ist. Gleichzeitig aber ist damit zu rechnen, dass die physische, leibhaftige Begegnung von Mensch zu Mensch an Wertigkeit und an Gewicht gewinnen wird. Denn so sehr wir in den kommenden Monaten die Praktikabilität, Keimfreiheit und Kostengünstigkeit digitaler Meetings schätzen lernen werden, so steht nicht minder zu erwarten, dass umgekehrt proportional dazu das Bewusstsein für die unvergleichliche Intensität, Magie und Begeisterungskraft analoger Begegnungen zunimmt. Denn es ist ein altes Grundprinzip des Menschseins: Der unschätzbare Wert des allzu Selbstverständlichen leuchtet uns meistens dann erst ein, wenn seine Selbstverständlichkeit geschwunden ist.

Das also könnte eine unerwartete und eigentümliche Lektion Coronas sein: dass das, was uns in dieser Zeit gefährdet und was gemieden werden soll – das leibliche und physische Beisammensein von Menschen –, mit das Kostbarste und Beste ist, was uns das Leben zu bieten hat; und dass wir deshalb die Wertigkeit des analogen Seins neu würdigen zu lernen sollten. Die Berührung einer Hand, das Schulterklopfen eines Freundes, die Umarmung einer Freundin – all das sind am Ende des Tages doch die kleinen Gesten, die für den Zauber des Lebens unverzichtbar sind. Auch wenn Leiblichkeit gefährlich ist, kann es ohne sie für uns doch keine wirkliche Erfüllung geben.

 7. Der Markt versagt in Krisenzeiten

Wenn es einen Gott gibt, der durch Covid-19 vom Podest gestoßen wird, dann ist es der Markt – wodurch dann auch erwiesen wäre, dass er in Wahrheit kein Gott war, sondern allenfalls ein Götze: ein mächtiger, gewiss, denn ungeachtet seines Scheiterns huldigt ihm die weltbeherrschende geistige Formation des Liberalismus. Und es steht zu befürchten, dass dessen Anhänger ihm auch künftig huldigen werden. Doch gibt es keinen Anlass mehr dazu. Der Markt hat sich in der Corona-Krise als unfähig erwiesen, die Rolle zu übernehmen, die ihm Liberalisten zuweisen: die Rolle des gesellschaftlichen Regulativs. Hätte man dem Markt allein das Feld des Handelns überlassen, die Ausmaße der Pandemie wären noch gewaltiger als jetzt.

Erinnern wir uns nur an ein paar scheinbar nebensächliche Episoden: den groß angelegten Export medizinischer Schutzkleidung von Deutschland nach China im Januar – ökonomisch schlau, politisch töricht; die Preisexplosion von Atemschutzmasken bei Amazon und Ebay – wirtschaftlich gewitzt, moralisch niederträchtig; die US-amerikanischen Avancen an deutsche Forschungsinstitute, mit teurem Geld Patente für künftige Impfstoffe zu erwerben – dem Marktgesetz konform, der transatlantischen Freundschaft ein Schlag ins Gesicht. Drei Beispiele, die eines deutlich machen: Ein freier und unregulierter Markt, der konsequent der spieltheoretischen Logik und liberalistischen Ideologie folgt, kann Gesellschaften ins Elend stürzen und Millionen Menschenleben in Gefahr bringen. Der Wirtschaftsliberalismus ist eine Schönwetterideologie. In Krisenzeiten versagt er komplett.

Der Grund dafür ist schnell gefunden: Der Liberalismus gründet auf dem flachen Menschenbild des Homo Oeconomicus – des rationalen, ökonomischen Agenten, der bei allem, was er tut, nur den eigenen Vorteil sucht. Menschen mögen unter bestimmten Umständen dazu neigen, sich nach Maßgabe des Homo Oeconomicus zu entwerfen; etwa dann, wenn sie sich in großer existenzieller Sicherheit wiegen und jedes Bewusstsein dafür verlieren, dass sich ihre gesamte Existenz dem Eingewoben-Sein in ein gesellschaftliches Netz verdankt, das sie trägt und hält. Sie leben dann in einer rauschhaften Trance, die sich von kurzfristigen wirtschaftlichen Erfolgen nährt, aus der es jedoch ein schmerzliches Erwachen gibt, wenn die Sicherheit in Stücke springt. Wenn sich der Abgrund öffnet, den der Homo Oeconomicus beharrlich ignorierte, dann fällt der hochgerühmte Markt in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

 8. Ein neues ökonomisches Paradigma

Manchmal ist es gut, sich mit dem Denken der Altvorderen zu befassen; zum Beispiel mit Aristoteles, der in seiner Abhandlung zur Politik ein paar Gedanken über die oikonomia – das Wirtschaften – vorgetragen hat, die infolge von Corona neue Aktualität gewinnen. Es geht dem Philosophen darin um die Frage, welches Ziel dem Wirtschaften gesetzt ist; oder besser, was der Sinn und Zweck von Wirtschaftsunternehmen ist. Diese Frage scheint aus Sicht des herrschenden, liberalistischen Paradigmas der Wirtschaft eigenartig oder nachgerade absurd. Denn es scheint ja festzustehen, dass das Ziel des Wirtschaftens nur dies sein kann: Wachstum, Profit, Rendite. Alles andere erscheint damit verglichen zweitrangig. Mit gutem Grund, denn die geistige Matrix des Liberalismus lehrt, der Mensch sei ein bedürftiges Wesen, dem es letztlich immer nur um darum gehe, für sich das Optimale herauszuholen.

Ein antiker Mensch wie Aristoteles sah das anders. Vielleicht auch deshalb, weil er ein klareres Bewusstsein dafür hatte, dass Leben systemisch organisiert ist – und dass es deshalb auf eine gute Anbindung an die umfassenden Systeme der Natur und des Gemeinwesens angewiesen ist, um möglichst unbeschadet durch die Zeit zu kommen. Deshalb dient aus seiner Sicht die Wirtschaft einem gänzlich anderen Sinn und Zweck. Das eigentliche Ziel von einem Unternehmen besteht laut Aristoteles nicht darin, grenzenlos Gewinne einzufahren, sondern den eigenen Bestand zu wahren. Sicherheit, und nicht Profit, sei daher das oberste Gebot. Genauer: Ressourcensicherheit bzw. Autarkie. Daran habe ein verantwortungsvoller Ökonom Maß zu nehmen. Denn die Wirtschaft stehe im Dienst des Menschen und habe den Auftrag, ihn mit alledem zu versorgen, was er für sein physisches Dasein benötigt. Deshalb komme alles darauf an, dass sich ein Unternehmen möglich selbst versorgen kann.

Nach Corona sollten wir uns daran erinnern. Denn was für die Pandemie gilt, wird für künftige Klimawandel-Katastrophen nicht minder zutreffen: Es ist nicht gut, wenn sich ein Unternehmen oder ein Gemeinwesen von anderen Wirtschaftsräumen oder Staaten abhängig macht. Lieferketten brechen ein, ohne dass man das Geringste tun könnte, um den Verlust einzudämmen. Wieviel besser wäre es da, alle notwendige Material-, Finanz-, Human- und Energieressourcen aus dem eigenen politischen und ökonomischen Raum zu beziehen und nur das notfalls Verzichtbare von anderswoher einzukaufen.

Damit ist eine, wenn nicht die zentrale Aufgabe der Politik nach Corona umschrieben. Es ist alternativlos: Wir müssen Europa zu einem autarken Wirtschaftsraum entwickeln – zu einem Wirtschaftsraum, der sich in pandemischen, ökologischen oder anderen kollektiven Krisen aus sich selbst heraus versorgen kann. Und wenn die Europäische Union dafür nicht die erforderlichen Ressourcen aufbringen kann, sollte sie tunlichst daran arbeiten, ihren Wirtschaftsraum dorthin auszuweiten, wo Ressourcenreichtum herrscht: etwa nach Russland. Das ist die wirtschafts- und geopolitische Lektion, die Corona uns Europäer lehrt: Wir müssen uns unabhängig machen: von China, von Brasilien, von den USA, wahrscheinlich auch von Indien.

Wären wir schon so weit, hätten wir wahrscheinlich schneller den Mut aufgebracht, Einreise- und Importstopps aus China zu erlassen. Wie könnten uns dann auch (was wir ohnehin tun sollten) die norditalienischen Leiharbeiter-Camps sparen, in denen billige Arbeitskräfte aus Fernost bei Nacht und Nebel das Virus nach Europa schleppten. Gerade dieses Beispiel zeigt besonders eindringlich, dass nichts so sehr Not tut wie eine Disruption unseres ökonomischen Denkens: weg vom liberalistischen Dogma der Profitmaximierung, hin zur traditionellen Weisheit eines auf Autarkie angelegten Wirtschaftens, das Wachstum und Sicherheit, Freiheit und Nachhaltigkeit, Funktionalität und Schönheit verbindet.