Zwei Wochen dauern nun schon die Kampfhandlungen in der Ukraine. Ein Ende ist nicht in Sicht. Während auf dem internationalen Parkett nach einer diplomatischen Lösung gesucht wird, kommt der Krieg inzwischen immer mehr in Deutschland an. Nicht nur in Gestalt der bald 100.000 Flüchtlinge, sondern auch mental und psychisch. Kommunalpolitiker sehen sich gezwungen, die Menschen dazu aufzufordern, Beschimpfungen oder Bedrohungen von russischstämmigen Mitbürgern zu unterlassen. Und nicht nur das: Wer Verständnis für die russische Seite zeigt, wird als „Putin-Versteher“ kritisiert, und wer sich für militärischen Druck auf Russland einsetzt, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, ein Militarist zu sein. Die Spannungen nehmen zu – nicht ohne Folgen für unsere Gesellschaft. Darüber redet Stefan Eich (SWR aktuell) mit unserem Philosophen Christoph Quarch. Herr Quarch, müssen wir befürchten, dass der Ukraine-Krieg das friedliche Miteinander hierzulande gefährdet?
- Ich glaube nicht, dass es hierzulande zu Gewalt auf den Straßen kommen wird, aber mich beunruhigt, was in den Köpfen geschieht. Der Philosoph Thomas Hobbes hat einmal gesagt, Krieg herrscht schon da, wo die Bereitschaft zu Kampf vorhanden ist. Und davon scheinen wir nicht mehr weit entfernt zu sein. Es erschüttert mich, wie schnell wir dabei sind, die Kategorien von „Freund“ und „Feind“ zu reaktivieren – oder uns über andere Menschen zu stellen und sie als „Putin-Versteher“ zu diffamieren. Dass sich Russen, die seit Jahrzehnten hier leben, nicht mehr sicher fühlen, ist ein absolutes No-Go. Als Demokraten sollten wir ihnen auch dann zuhören und nicht über sie herfallen, wenn sie eine andere Sicht auf diesen Krieg haben als wir.
Aber ist es nicht ganz natürlich und auch richtig, dass die Menschen in einem Krieg Position beziehen. Zumal in einem Krieg, bei dem offensichtlich ist, wer der Aggressor und wer das Opfer ist.
- Klar ist es sehr menschlich und verständlich, sich mit den Opfern zu solidarisieren und den Aggressor zu kritisieren. Und ich bin ganz d’accord, dass in diesem Falle klar ist, wie hier die Rollen verteilt sind. Ich habe aber trotzdem kein gutes Gefühl dabei. Wir machen es uns zu einfach, wenn wir sagen: „Putin ist der Böse und die Ukrainer sind die Guten“. Ich will gar nicht bestreiten, dass da etwas Wahres dran ist. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass wir dabei in eine Falle tappen könnten. Und zwar dann, wenn wir unsere Urteile von Gut und Böse fällen – und meinen, damit fertig zu sein. Klar, wir wissen dann, auf welcher Seite wir stehen. Doch dann verfolgen wir das Kriegsgeschehen, wie einen Hollywood-Film, bei dem wir hoffen, dass die Guten gewinnen. D.h. wir konsumieren den Krieg, anstatt uns von ihm angehen zu lassen.
Das kann man aber doch so nicht sagen. Die Hilfsbereitschaft gegenüber den Flüchtlingen ist immens. Offenbar lassen sich viele Menschen von diesem Krieg und dem Schicksal der Flüchtlinge sehr wohl berühren.
- Selbstverständlich. Und ich bin froh und dankbar dafür, dass es so ist. Aber trotzdem sehe ich – selbst wenn’s nervt – auch hier ein Problem: So lobenswert die Flüchtlingshilfe ist, so oft ist sie doch dem gerade in Deutschland sehr verbreiteten Wunsch geschuldet, gut sein zu wollen. Natürlich ist daran im Einzelnen auch gar nichts falsch, nur laufen wir Gefahr, vor lauter Hilfsbereitschaft das Wichtigste aus dem Blick zu verlieren: nämlich uns durch diesen Krieg in Frage stellen zu lassen. Denn der Krieg wirft wichtige, aber auch unangenehme Fragen auf, die wir beantworten müssen: Würden auch wir für unsere Freiheit kämpfen? Und wenn ja für welche Freiheit? An welche Werte glauben wir eigentlich noch? Würden auch wir unser Leben für unser Land aufs Spiel setzen?
Immerhin hat der Krieg dazu geführt, dass die Bundesregierung spontan 100 Milliarden Euro in Rüstung investieren will, um das Land besser verteidigen zu können.
- Ja, aber das ist so lange rausgeschmissenes Geld, wie wir nicht begreifen, dass es bei diesem Krieg für uns um mehr geht als um moralische Urteile hier und um Hilfsbereitschaft da. Und dass die sogenannte Wehrfähigkeit unseres Landes nicht primär an den Waffen hängt, sondern an der Mentalität der Menschen. Wenn wir angesichts des Krieges in Europa etwas für den Bestand unseres Gemeinwesens tun wollen, dann müssen wir aus unserer Konsumenten-Trance aufwachen und uns überlegen, wie wir uns neuerlich für die Werte unseres Gemeinwesens begeistern können: politische Freiheit, Gerechtigkeit, Mitbestimmung, Demokratie. Diese Werte in unserer Gesellschaft stark zu machen: Das wäre die richtige Antwort auf den Krieg. Und hier sind wir alle – restlos alle – gefragt.