Ἁρμονία – Harmonie und Einklang

Das Maß aller Dinge

Am Ende des IX. Buches seines großen Dialogs über den Staat legt Platon seinem Sokrates einen bemerkenswerten Satz in den Mund: „Vielleicht ist für uns ja ein Muster hinterlegt im Himmel, das zu betrachten einen Menschen dazu bringt, sich selbst auf gute Weise einzurichten.“ Was mag das für ein Muster sein, fragt man sich da als neuzeitlicher Leser. Für Platons Zeitgenossen aber war die Sache klar: Der Himmel selbst mit seiner wunderbaren Ordnung galt ihnen als Inbegriff der Schönheit. Das große Schauspiel der Gestirne nannten sie kósmos: schöne Ordnung. Und es war das Hauptanliegen jener ersten Denker, die als ‚Vorsokratiker‘ bekannt sind, zu verstehen, was es auf sich hat mit dieser wunderbaren großen Ordnung, sie sich vor ihnen entfaltete.

Es war wohl Heraklit – den sie den „dunklen Denker“ nannten –, der als erster das Wort fand, mit dem die Philosophen Griechenlands fortan benannten, was ihnen für das gesamte Leben maßgeblich und richtungsweisend schien: hármonía, Harmonie. Und er ließ es nicht dabei bewenden, dieses Wort im Zentrum seines Denkens zu platzieren, er lieferte zugleich auch eine Formel, die erklärte, was es ursprünglich bedeutet: „Das Widereinanderstehende zusammenstimmend und aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie“ (Fr. 8).

Das klingt in sich widersprüchlich, und so sah sich Heraklit genötigt, ein Symbol für das Gemeinte anzubieten: „Sie verstehen nicht, wie das Unstimmige mit sich übereinstimmt: des Wider-Spännstigen Einklang (harmonía) wie bei Bogen und Leier.“ (Fr. 51) Macht das Bild die Sache klarer? Nun, Leier und Bogen verdanken ihre Funktionalität der hohen Spannung einer Sehne, die zwei auseinanderstrebenden Enden zusammenhält. Es ist diese Spannung, die der Leier wunderbare Klänge entströmen lässt – eine Musik, die so machtvoll ist, dass der Gott Apollon damit den Kriegsgott Ares besänftigen und der Sänger Orpheus das Herz des Totengottes Hades erweichen konnte. Die Musik, die selbst der Inbegriff des Harmonischen ist, verdankt sich einem in sich spannungsvollen, einander widerstrebenden und dabei doch stimmigen Arrangement – einem kósmos, dessen Ordnung gar nichts anderes ist als harmonía.

So naheliegend war den Griechen die Vergleichbarkeit harmonischer Musik und kosmischer Ordnung, dass ein Denker wie Pythagoras den kühnen Gedanken fassen konnte, die Gestirne – namentlich die Planeten – würden auf ihren Bahnen Töne hinterlassen, die so wundervoll harmonisch zueinander passen, dass die Welt – ja, dass das Sein im Ganzen – vollgültig als eine Symphonie beschrieben werden könne: als das himmlische Muster, auf das Platon seinen Sokrates verweisen lässt und dessen Deutung er zwei andere große Dialoge widmete: den Timaios und das X. Buch seiner Gesetze.

Wieder und wieder begegnet die kosmisch-himmlische Harmonie der Gestirnumläufe als Metapher und als Manifestation desjenigen, was Platon seinen Lesern als das Maß des Lebens schmackhaft machen wollte: Ob im persönlichen Leben, im Bereich der Ökonomie oder auf dem Feld der Politik: Harmonien zu erzeugen, ist die Weise, wie wir Menschen dem genügen können, was als Sinn dem Leben eingezeichnet ist: Der große Arzt Hippokrates beschrieb Gesundheit als die Harmonie der körperlichen Säfte und Funktionen und lehrte, die Aufgabe des Heilkundigen sei es, die gestörte Harmonie des Leibes, wiederherzustellen. Die Baukünstler und Bildhauer wetteiferten darin, in ihren Werken zu Ehren der Götter die kosmische Harmonie ins Werk zu setzen. Sokrates beschrieb die menschliche Glückseligkeit als stimmige Harmonie von Intellektualität, Emotionalität und Affektivität. Aristoteles sah die Aufgabe des Ökonomen darin, in Harmonie mit der Natur zu wirtschaften. Und Platon wurde nicht müde, das Maß der Harmonie auf die Politik anzuwenden, wo er es in Gestalt der Gerechtigkeit als Ziel und Maß des Handelns inthronisierte.

Gerade wenn es um die Politik geht, tun wir aber gut daran, ein mögliches und häufiges Missverständnis auszublenden: Harmonía, wie die Griechen sie dachten, ist niemals harmonistisch. Sie bezeichnet gerade nicht die Null-Spannung des ‚Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb‘. Harmonía kann auch walten, wo Meinungen oder Lebensformen hart aufeinanderprallen. Die Griechen sahen sie selbst da am Werke, wo es tragisch zugeht. Vielleicht ist die Tragödie der schönste Ausweis für das griechische Vertrauen in die große Harmonie der Welt – als einer „verborgenen Harmonie“, von der Heraklit meinte, sie sei „stärker als die sichtbare“ (Fr. 54).

Wenn wir heute langsam begreifen, dass wir – um den Herausforderungen des Klimawandels zu begegnen und den Erkenntnissen der Wissenschaft zu genügen – systemisch und holistisch denken müssen, können wir vielleicht erahnen, wie aktuell der Geist der Griechen ist. Könnte es sein, dass die Zeit gekommen ist, in der wir neuerlich zum Himmel blicken sollten, um maß zunehmen an dem Maß, das allem Leben innewohnt: dem Maß der harmonía?

Θhink Greek! Denn, das Älteste ist zuweilen das Frischste.

Herzlich, Christoph

(veröffentlicht in der Zeitschrift „Abenteuer Philosophie“)