Λόγος – Sprache, Ordnung, Sinn

Die Par­ti­tur der Welt

Weni­ge Wor­te haben die euro­päi­sche Geis­tes­ge­schich­te so sehr geprägt wie das Wort lógos. Und nur weni­ge Wor­te haben die Über­set­zer vor so gro­ße Schwie­rig­kei­ten gestellt, wie die­se Ver­bin­dung von fünf unschein­ba­ren grie­chi­schen Buch­sta­ben. Den­ken wir nur an Goe­thes Faust, der bei dem Ver­such, den Pro­log des Johan­nes-Evan­ge­li­ums zu über­set­zen, ins Strau­cheln kommt: „Geschrie­ben steht: ‚Im Anfang war das Wort!‘ / Hier stock‘ ich schon! Wer hilft mir wei­ter fort?“ Wo Faust ‚Wort‘ schreibt, steht im Ori­gi­nal­text lógos. Und er ahnt, dass sei­ne Über­set­zung unzu­läng­lich bleibt. So ver­sucht er es statt „Wort“ mit „Sinn“, „Kraft“ oder „Tat“. Kei­ne die­ser Optio­nen kann ihn über­zeu­gen. Was der lógos wirk­lich ist, bleibt rät­sel­haft und unverstanden.

Das ist ungüns­tig, denn in der grie­chi­schen Phi­lo­so­phie ist der lógos all­ge­gen­wär­tig. Schon Hera­klit begann in vor­so­kra­ti­scher Zeit sein berühm­tes Apho­ris­men­buch mit den Wor­ten „Den wirk­lich sei­en­den lógos zu ver­ste­hen, wird den Men­schen immer schwer­fal­len […], denn obgleich alles gemäß dem lógos geschieht, ver­ste­hen sie ihn doch trotz aller ihrer Wor­te und Wer­ke nicht.“ (Fr. 1) Und er fährt fort: „Not tut es, dem gemein­sa­men lógos zu fol­gen. Doch obwohl er allen gemein ist, leben die Vie­len, als hät­te jeder sei­nen eige­nen lógos. (Fr. 2) Die­se Wor­te hal­len wie ein Echo durch die Zei­ten: Pla­ton rühm­te den lógos als die Grund­tex­tur des Seins, Aris­to­te­les erkann­te in ihm das Wesens­merk­mal des Men­schen, den er zōón lógon échon nann­te – ein mit lógos aus­ge­stat­te­tes Lebe­we­sen –, der gro­ße Arzt Hip­po­kra­tes fei­er­te den lógos als wich­ti­ges The­ra­peu­ti­kum und die Stoi­ker waren davon über­zeugt, dass ein gött­li­cher lógos die Welt durch­wal­te und in eine stim­mi­ge Ord­nung füge. Immer geht es dabei um den lógos, immer gilt er als Garant und Grund der Sinn­haf­tig­keit der Welt, die die Grie­chen schö­ne Ord­nung – kós­mos – nannten.

Aber was ver­birgt sich hin­ter die­sem Wort? Eine Spur weist uns das Verb, von dem es her­ge­lei­tet ist: légein. Légein heißt ursprüng­lich ‚sam­meln‘, ‚auf­he­ben‘, ‚zusam­men­tra­gen‘. Légein heißt auch ‚lesen‘, aber nicht pri­mär im Sin­ne der Lek­tü­re, son­dern eher im Sin­ne der Wein­le­se, die immer zugleich ein Aus­le­se ist. Und damit kom­men wir dem Geheim­nis des lógos näher: In ihm ist etwas Aus­er­le­se­nes ver­sam­melt, er ist die Ein­heit einer Viel­falt, die nicht will­kür­lich und zufäl­lig ver­sam­melt, son­dern zu einer sinn­vol­len Ord­nung gefügt ist. Lógos ist des­halb zugleich das Erle­se­ne als auch das Les­ba­re. Er ist eine sinn­vol­le und des­halb auch ver­ständ­li­che Tex­tur. Wenn etwas lógos hat, dann wird ihm unter­stellt, dass ihm ein ver­ständ­li­cher Sinn inne­wohnt; wenn jemand lógos hat, dann geht man davon aus, dass er den Sinn – den lógos – des­sen ver­ste­hen und erschlie­ßen kann, was ihm in der Welt begegnet.

Damit öff­net sich ein wei­tes Feld von Bedeu­tun­gen: Lógos ist durch­aus das Wort, sofern ein jedes Wort als ein sinn­vol­les und ver­ständ­li­ches Geflecht von Buch­sta­ben oder Lau­ten beschrie­ben wer­den kann. Lógos ist zugleich der Satz, aber auch ein gan­zer Text, des­sen Struk­tur mit Hil­fe der Logik ermit­tel­bar ist. Lógos ist aber nicht nur der Text, son­dern auch die Spra­che, in der er geschrie­ben oder gespro­chen ist. Denn was ist die Spra­che ande­res als ein sinn­vol­les und sinn­stif­ten­des Wort­ge­we­be – ein lógos? Aber nicht nur Spra­che oder Text sind lógos, son­dern allem vor­an der in ihnen ver­laut­bar­te Sinn, der sich dem Lesen­den (oder Hören­den) erschließt: was dar­an ver­ständ­lich ist. Was wir spre­chend oder lesend ver­ste­hen, ist nichts Mate­ri­el­les, son­dern etwas Geis­ti­ges; so dass es nicht ver­wun­dern muss, das lógos auch mit ‚Geist‘ wider­ge­ge­ben wird – und zwar sowohl im Sin­ne des Geis­tes, der als sinn­ge­ben­de Kraft in allem Sinn­vol­len ver­mu­tet wird, als auch im Sin­ne des Geis­tes, mit dem der Mensch den Sinn gewah­ren kann. Wenn Aris­to­te­les den Men­schen als „Lebe­we­sen mit lógos“ defi­niert, dann denkt er dabei nicht pri­mär, dass sich der Mensch durch sei­ne Spra­che von ande­ren Wesen unter­schei­de, son­dern dass er ver­mit­telt durch Spra­che und Den­ken an der geis­ti­gen Ord­nung der Welt teil­ha­ben und deren Sinn erschlie­ßen kann – ja, dass Spra­che, Den­ken und Sinn­ver­ste­hen rschei­nungs­for­men die­ses einen, allen gemei­nen lógos sind.

Nun ver­ste­hen wir, war­um Hera­klit mein­te, der allen gemei­ne lógos sei maß­geb­lich für ein gutes und stim­mi­ges Men­schen­le­ben: weil ein Leben im Ein­klang mit dem lógos ein Leben im Ein­klang mit der Seins­ord­nung der leben­di­gen Natur ist. Nun ver­ste­hen wir, war­um die Stoi­ker den lógos für eine Gott­heit hiel­ten und war­um sie glaub­ten, dass der Mensch kraft sei­ner Teil­ha­be am lógos ein gutes und gött­li­ches Leben füh­ren kön­ne. Und wir ver­ste­hen auch, war­um Sokra­tes und Pla­ton mein­ten, die Aus­bil­dung des lógos sei für den ein­zel­nen Men­schen eben­so wie für ein Gemein­we­sen die wich­tigs­te Auf­ga­be, weil nur die Akti­vie­rung des in uns wal­ten­den lógos das indi­vi­du­el­le und kol­lek­ti­ve Leben so in Ein­klang bringt, dass das Leben zu sei­ner Schön­heit erblü­hen kann.

Lógos heißt auch Par­ti­tur: die sinn­stif­ten­de Ord­nung einer schö­nen Musik. Viel­leicht ist das die schöns­te Über­set­zung die­ses sper­ri­gen Begriffs. Zumin­dest kommt sie dem grie­chi­schen Geist am nächs­ten: denn die Teil­ha­be am lógos die­ser Welt, die Fähig­keit, ihren aus­er­le­se­nen Sinn zu lesen und ins eige­ne Leben zu über­set­zen, erlaubt es uns, zur gro­ßen Melo­die des Lebens einen schö­nen Tanz zu tan­zen. Und hat Her­mann Hes­se nicht Recht, wenn er sagt: „Mit­tan­zen im Rei­gen der Welt, das ist unse­re Teil­ha­be am Glück“?

Θhink Greek! Denn, das Ältes­te ist zuwei­len das Frischste.

Herz­lich, Christoph

(ver­öf­fent­licht in der Zeit­schrift „Aben­teu­er Phi­lo­so­phie”)