Was die Welt am Leben hält
In seinem letzten und umfangsreichsten Werk – dem Dialog über die Gesetze (Nomoi) – hat Platon schließlich doch noch ausgesprochen, was für ihn das Grundprinzip von Sein und Kosmos ist. „Psychē“, so lässt er einen ‚Gastfreund aus Athen‘ dort fragen, „muss doch wohl ein jeder Mensch als theós anerkennen?“. Wobei seine Gesprächspartner nicht zögern, ihm zuzustimmen. In den geläufigen deutschen Übersetzungen lauten die Worte des Athener freilich anders: „Die Seele muss doch wohl ein jeder Mensch für eine Gottheit halten?“, ließt man dort. Das ist aber nicht, was Platon sagen wollte. Aus dem Zusammenhang ist klar, dass die psychē, um die es geht, so gut wie nichts mit dem zu tun hat, woran Menschen heute denken, wenn sie „Seele“ hören: Sie ist nicht so etwas wie der Wesenskern des Menschen, keine Substanz, die sich nach ihrem Ableben vor einem Weltenrichter verantworten muss oder neu reinkarnieren kann. Was ist sie dann?
Die psychē, von der uns Platon wissen lässt, sie sei theós, erweist sich in den Ausführungen des Athener Gastfreunds als der Grund und Ursprung alles Seins und Werdens: als die kosmische Lebendigkeit, die das All im Innersten zusammenhält, bewegt und in eben jene schöne Ordnung fügt, die man auf Griechisch kósmos nannte. „Gäbe es keine psyché“, lässt Platons uns im Phaidros wissen, müssten der ganze Himmel und das ganze Werden in sich zusammenfallen und stillstehen – und es gäbe nichts, wodurch bewegt sie neuerlich entstehen könnten“ (Phdr. 245d). Diese kosmische psychē ist aber keine „Gottheit“, die man gegenständlich fassen könnte, sondern sie ist Gott im Sinne, den die Griechen mit theós verbanden: etwas, das zu erfahren oder zu verstehen uns der unbedingten Sinnhaftigkeit und Bejahbarkeit des Seins versichert: das, „was uns unbedingt angeht“ (Paul Tillich), was das Sein und Werden dieser Welt zu einem heiligen Geschehen macht.
Platon steht mit dieser Sicht der psychē nicht allein. Seine Verwendung des Wortes entspricht ältestem griechischen Denken. Dass er darum wusste, verrät eine Passage aus dem Dialog Kratylos, in der er seinen Sokrates über die Herkunft dieses Wortes spekulieren lässt: „Das Wesen (phýsis) des ganzen Leibes, so dass er lebt und umhergeht – was meinst du, würde etwas anderes es halten (échein) und hegen (óchein) als psychē? – Nichts anderes! – […] Schön also ist es, dieses Wort zu haben und das Vermögen, welches das Wesen hegt und hält (phýsin ocheî kai échei), Wesenshalter (physéche) zu nennen. Das aber kann man etwa eleganter dann auch Lebendigkeit (psyché) nennen. (Cr. 400a). Die psychē, so kommt es hier heraus, hält und trägt das Sein und Werden – die phýsis – des Leibes: sie erhält den Leib am Leben; und nicht nur den des Menschen, sondern auch den Leib von allen anderen Wesen, ja den Leib des Kosmos selbst, den Platon und die meisten seiner Zeitgenossen für ein Lebewesen hielten und als sichtbare Erscheinungsform des Göttlichen verehrten. Psychē ist der Grund dafür, dass das Leben lebt und auch am Leben bleibt. Und wenn Leben ganz lebendig ist, dann hat die psychē ihr ganzes Potenzial entfaltet und erblüht in voller Kraft und Schönheit.
Als das Grundprinzip des Seins und Wesens aller Lebewesen wohnt psychē natürlich auch dem Menschenwesen inne. „Psyché im Ganzen waltet über alles, indem sie sich verschiedentlich in verschiedenen Gestalten zeigt“, sagt Platon im Phaidros (Phdr. 246b) – also auch in der Gestalt der vielen Lebewesen. Und so ist es nur verständlich, dass die Menschen in der grauen Vorzeit den Gedanken fassten, psychē sei gleichbedeutend mit dem Lebenshauch, dem Odem, der im Tod den Leib verlasse und sodann als Schatten in der Unterwelt gespeichert werde. Aus der Odyssee Homers ist uns bekannt, dass sich die Menschen seinerzeit die psychē der Verstorbenen als eine Art Datensatz vorstellten, der nicht durch elektrischen Strom, wohl aber durch Blut „zum Leben erweckt“ werden und seine Informationen preisgeben könne.
Sehr viel später erst, dem Zeugnis des Herodot (ca. 490-420 v.Chr.) zufolge, wurde durch den legendären Philosoph Pythagoras die uns heute so geläufige Idee der Reinkarnationslehre bzw. einer individuellen, substanziellen Seele aus Ägypten nach Griechenland eingeführt – eine Behauptung, die durch archäologische Funde in Süditalien gestützt wird.
Auch Platon kannte diese damals neue Deutung der psychē. In seinen Dialogen wimmelt es von Anspielungen oder mythisch-spielerischen Varianten auf den Seelenmythos der Pythagoreer. Dass er deren Lehren folgte, muss gleichwohl bezweifelt werden. Jedenfalls lässt er in seinem Phaidon den dem Tode nahen Sokrates in seinem Bemühen scheitern, unter Rückgriff auf die pythagoreische Seelenlehre einen stichhaltigen Beweis für die Unsterblichkeit der individuellen Seele vorzutragen. Was bei Sokrates‘ – und Platons – Bemühungen im Phaidon herauskommt, ist etwas ganz anderes: etwas, das sich reibungslos mit jenem ursprünglichen, kosmischen Verständnis der psychē zusammenbringen lässt, das den Athener in den Nomoi veranlasste, sie als theós zu feiern: Die psychē des Kosmos west und waltet jenseits von Raum und Zeit. Sie ist unsterblich. Der Mensch hingegen ist eine einmalige und endliche Manifestation der kosmischen Lebendigkeit. Ob auch wir unsterblich sind, hängt daran, ob es uns gelingt, unser Leben so führen, dass es im Einklang mit der großen Melodie des Kosmos schwingt. Denn die große Weltenseele, sagte schon der weise Heraklit (545-475 v.Chr.), west in vollkommener Harmonie – und die Lebensmelodie des Menschen, der mit ihr in resonantem Einklang ist, wird in ihr für alle Zeiten weiterklingen.
Θhink Greek! Denn, das Älteste ist zuweilen das Frischste.
Herzlich, Christoph
(veröffentlicht in der Zeitschrift „Abenteuer Philosophie“)