Φύσις – Wachsen, Wesen, Natur

Was die Welt im Inners­ten zusammenhält

Als spä­te­re Edi­to­ren und Biblio­the­ka­re die Tex­te der ältes­ten grie­chi­schen Den­ker wie Tha­les, Hera­klit oder Par­men­i­des ver­öf­fent­lich­ten, gaben sie ihnen uni­so­no stets des­sel­ben Titel: Peri Phy­se­ōs. War das auch ein wenig ein­falls­los, so traf es in der Sache zu: Das, womit sich die­se Phi­lo­so­phen ein­ge­hend befasst hat­ten, war tat­säch­lich das, was man auf Grie­chisch phý­sis nennt. Irre­füh­rend aber ist, dass die deut­schen Aus­ga­ben meist Über die Natur beti­telt sind – obwohl sich Natur als gän­gi­ge Über­set­zung von phý­sis ein­ge­bür­gert hat.

Tat­säch­lich aber ist phý­sis sehr viel mehr. Ange­zeigt ist das durch die Endung -is, die im alten Grie­chisch dazu dient, ein Gesche­hen zu sub­stan­ti­vie­ren – also das zu tun, was man im Deut­schen mit einer Endung wie -ung aus­drü­cken kann: die Berg­be­stei­gung, die Umlei­tung, die Ver­än­de­rung. Ganz so steht es auch mit phý­sis: ein Sub­stan­tiv, das sich vom Ver­bum phy­eîen her­lei­tet: wach­sen. Wört­lich über­setzt ist phý­sis so gese­hen: die Wach­sung. Da es die­ses Wort jedoch auf Deutsch nicht gibt, hel­fen wir uns mit: das Wach­sen. Wolf­gang Scha­de­waldt, ein bedeu­ten­der Grä­zist des 20. Jahr­hun­derts, hat phý­sis dazu pas­send defi­niert als: „ein ganz umfas­sen­des Wal­ten und Wesen im Sin­ne eines Her­vor­trei­bens und Wachsenlassens“.

Was genau damit gemeint ist, ver­steht man am bes­ten, wenn man sich am Wachs­tum einer Pflan­ze ori­en­tiert: das Wun­der des ver­bor­ge­nen Kei­mens im dunk­len Schoß der Erde, das Her­aus­tre­ten ans Licht, das Sich-Ent­fal­ten, Wach­sen, Gedei­hen, Blü­hen, Fruch­ten, Wel­ken und Ster­ben. All das ist phý­sis: ein leben­di­ges Gesche­hen; nein: das leben­di­ge Gesche­hen… mein­ten zumin­dest die Alt­vor­de­ren der grie­chi­schen Philosophie.

Streng genom­men näm­lich war phý­sis nicht das das The­ma ihrer phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten, son­dern die Ant­wort, die sie auf genau die Fra­ge gaben, die sie alle umtrieb: War­um ist über­haupt etwas und nicht viel­mehr nichts? Was hat es mit dem Wun­der des Wer­dens auf sich? Wie ist die­se Welt ent­stan­den? Was ist ihr Wesen? Oder, um es noch küh­ner zu for­mu­lie­ren: Wie west der Kos­mos? Die Ant­wort lau­tet phý­sis. Die­ser Kos­mos west, indem er wächst. Wach­sen ist das Wesen der Welt. Des­halb lässt sich phý­sis nicht nur mit Wach­sen, son­dern auch mit Wesen über­set­zen – sofern man auch Wesen nicht als etwas Ding­haf­tes, Sta­ti­sches begreift, son­dern als ein leben­di­ges Geschehen.

Nun wird deut­lich, inwie­fern es miss­ver­ständ­lich ist, bei phý­sis an Natur zu den­ken. Dann jeden­falls, wenn man Natur neu­zeit­lich als die Sum­me aller nicht von Men­schen­hand gemach­ten Din­ge deu­tet.: Ber­ge, Wäl­der, Seen oder … Stark­re­gen. Nicht die vor­stell­ba­ren Din­ge sind die phý­sis, son­dern jenes wun­der­ba­re Wesen, das in ihnen allen wirkt und wal­tet: das dem Wer­den eine Rich­tung gibt und die Din­ge die­ser Welt zuta­ge tre­ten lässt – ohne dass es mit den Din­gen die­ser Welt iden­tisch wäre. Hera­klit, der schon im Alter­tum den Bei­na­men „der Dunk­le“ trug, sag­te dazu pas­send phý­sis phí­lei kryp­test­hai: Phý­sis liebt es, im Ver­bor­ge­nen zu blei­ben. Damit mein­te er gewiss nicht all die Bäu­me, Ber­ge, Blu­men, Flüs­se oder Wol­ken, die wir unter dem Begriff Natur zusam­men­fas­sen und die sicht­bar vor uns ste­hen, son­dern jenes Wal­ten, das sich – gera­de weil es alles aus der Ver­bor­gen­heit ans Licht bringt bzw. aus der puren Mög­lich­keit in Wirk­lich­keit über­führt – hin­ter sei­nem Wir­ken ver­steckt hält.

Viel­leicht ist das der eigent­li­che Grund dafür, dass wir Men­schen der Moder­ne uns so weit von der Natur ent­fernt haben. Wir hal­ten sie für etwas Gegen­ständ­li­ches, das wir als maît­re et pos­s­es­seur, als Herr und Meis­ter, beherr­schen kön­nen, wie René Des­car­tes einst mein­te. Genau die­ser Irr­glau­be aber hat dazu geführt, dass wir das Wesen die­ser Welt – ein­schließ­lich unse­rer selbst – nicht mehr ver­ste­hen. Wir nei­gen zu der Auf­fas­sung, das Wer­den aller Din­ge sei das Werk von Göt­tern oder Men­schen. Doch wir ler­nen heu­te, dass es eher die Zer­stö­rung der Natur ist, die wir zurech­nen kön­nen. Und viel­leicht sind wir ange­sichts des­sen künf­tig bereit, uns neu­er­lich der Weis­heit der Hel­le­nen anzu­schlie­ßen, die begrif­fen, dass das Sein und Wesen aller Din­ge nicht gemacht, son­dern gewach­sen ist; und das nicht bloß zufäl­lig und irgend­wie, son­dern höchst intel­li­gent und stim­mig. Des­halb hiel­ten sie die phý­sis stets in Ehren und ver­ehr­ten sie als etwas Hei­li­ges. Wir täten gut dar­an, ihnen dar­in zu fol­gen und uns selbst als phý­sis zu begreifen.

Θhink Greek! Denn, das Ältes­te ist zuwei­len das Frischste.

Herz­lich, Christoph

(ver­öf­fent­licht in der Zeit­schrift „Aben­teu­er Phi­lo­so­phie”)