Κόσμος – All, Universum, Kosmos

Was es mit dem Gan­zen auf sich hat

Auf die Fra­ge nach sei­nem Hei­mat­land hät­te ein Anhän­ger der stoi­schen Phi­lo­so­phie im 3. Jahr­hun­dert v.Chr. ver­mut­lich geant­wor­tet, er sei ein Kos­mo­polí­tēs. Aller­dings hät­te er damit etwas ande­res gemeint als das, was wir heu­te mit einem Kos­mo­po­li­ten asso­zi­ie­ren: Nicht dass er sich als Welt­bür­ger oder Glo­be­trot­ter sieht, son­dern als Bür­ger des kós­mos: des Gro­ßen und Gan­zen, des Alls oder wie immer wir es nen­nen wol­len. Denn der Kos­mos war den alten Grie­chen eine Hei­mat. Sie wuss­ten sich ihm zuge­hö­rig. Sie ver­stan­den sich als Teil des Alls, das sie umgab und über­wölb­te – und das des Nachts in Myria­den Ster­nen auf sie niederblickte.

Toú­ton tòn kós­mon – die­se unse­re Welt – erschien ihnen ver­eh­rungs­wür­dig. Es war gut, in die­ser Welt zu woh­nen. Pla­ton (428–348 v.Chr.) etwa scheu­te sich nicht, den Kos­mos einen „sicht­ba­ren Gott“ zu nen­nen: das „größ­te, bes­te, schöns­te und voll­kom­mens­te Lebe­we­sen“ – ein in sich stim­mi­ges, voll­kom­me­nes und in sich sinn­vol­les Gesche­hen, dem der Mensch nur mit ehr­furchts­vol­lem Stau­nen begeg­nen kön­ne. Dass der Phi­lo­soph mit die­ser Wahr­neh­mung des Kos­mos nicht allein war, ver­rät die ursprüng­li­che Wort­be­deu­tung, die ein jeder Grie­che hör­te, wenn er kós­mos sag­te: Schön­heit oder schö­ne Ord­nung.

Das erklärt zudem, war­um so unter­schied­li­che Prak­ti­ken wie Kos­me­tik und Kos­mo­lo­gie glei­cher­ma­ßen den kós­mos in sich tra­gen: Kos­me­tik ist die Fer­tig­keit geben, den Kör­per in eine schö­ne Ord­nung zu brin­gen; Kos­mo­lo­gie ist die Wis­sen­schaft, die sich mit der schö­nen Ord­nung des Gan­zen befasst. Wie ein Juwel erschien den alten Grie­chen die­se Welt – wie ein Dia­dem aus tau­send fun­keln­den Ster­nen, wie eine voll­ende­te und in sich har­mo­ni­sche Musik, die kein Gerin­ge­rer zu Gehör brach­te als der Künst­ler­gott Apollon.

Auch das ist für das Welt­ver­ständ­nis der alten Grie­chen kenn­zeich­nend: Der Kos­mos ist in ihren Augen nicht geschaf­fen oder her­ge­stellt. Die Idee eines all­mäch­ti­gen Schöp­fer­got­tes, der die Welt, wie ein Hand­wer­ker, aus dem Nichts allein durch sei­ne Macht und sei­nen Wil­len her­zu­stel­len wüss­te, ist ihnen fremd. Bei dem vor­so­kra­ti­schen Phi­lo­so­phen Hera­klit (545–475 v.Chr.) lesen wir statt­des­sen: „Die­sen Kos­mos, einer in allem, hat weder der Göt­ter noch der Men­schen einer geschaf­fen, son­dern er war schon immer und ist und wird sein: ewig­le­ben­di­ges Feu­er, nach Maßen ent­flam­mend und nach Maßen erlö­schend.“ (Frag­ment 30)

Aus die­sen Wor­ten spricht ein gänz­lich ande­res Welt­bild als das uns aus den abra­ha­mi­ti­schen Reli­gio­nen geläu­fi­ge: Kein Schöp­fer­gott wird hier bemüht, kein All­mäch­ti­ger – son­dern eine ewig wäh­ren­de, sinn­vol­le und des­halb „gött­lich“ zu nen­nen­de Welt­ord­nung. Und so ist es auch nicht der den Kos­mos erschaf­fen­de Wil­le Got­tes, der dem stau­nen­den Bür­ger die­ses kós­mos maß­geb­lich war, son­dern die den ewi­gen kós­mos durch­wal­ten­den Geset­ze und Prin­zi­pi­en. Sie zu erken­nen und zu ver­ste­hen, erschien den alten Grie­chen äußerst wün­schens­wert; denn wer ver­steht, nach wel­chem Regel­werk das gro­ße Lebe­we­sen Kos­mos funk­tio­niert, der wird dann auch erken­nen, was er tun muss, um das klei­ne Lebe­we­sen Mensch dar­in zu unter­stüt­zen, ganz zu sich zu kom­men, wirk­lich Mensch zu sein. „Am Him­mel fin­den wir ein Vor­bild“, sag­te Sokra­tes, „auf das wir schau­en kön­nen, wenn wir die Öko­no­mie unse­res eige­nen Seins in Ord­nung brin­gen wollen“.

So geriet den Grie­chen zum höchs­ten Ide­al sowohl des per­sön­li­chen als auch des poli­ti­schen Lebens, im Ein­klang mit dem Gan­zen die­ser Welt zu leben. Dass tou­ton ton kós­mon der Inbe­griff der Ver­derbt­heit sein kön­ne, als den Jahr­hun­der­te spä­ter der Apos­tel Pau­lus den kós­mos ver­damm­te, wäre Sokra­tes und den Sei­nen nicht in den Sinn gekom­men. Und dass man von die­ser Welt erlöst wer­den müs­se, hät­ten sie nur mit einem Kopf­schüt­teln quit­tiert. „Nein, die Welt ist schön und gut“, so hät­ten sie erwi­dert, „und es liegt an uns, uns ihrer wür­dig zu erwei­sen“. Dar­an hat sich nichts geändert.