Was der Brand von Notre Dame uns über unser Menschsein lehrt
Machen wir ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, ein Forscherteam im Silikon-Valley hätte am Morgen des 15. April einem ihrer mit den besten Algorithmen der Künstlichen Intelligenz ausgestatteten Superrechner die Frage vorgelegt, wie hoch das zu erwartende Spendenaufkommen für den Wiederaufbau einer französischen Kathedrale nach einem Brand des Dachstuhls und dem partiellen Einbruch des Deckengewölbes ausfallen dürfte. Selbst wenn die Programmierer dezidiert von Notre Dame gesprochen hätten, dürfte die Super-KI wohl kaum darauf gekommen sein, dass für den Wiederaufbau dieser Kirche innerhalb von nur zwei Tagen weit mehr Spenden aufgebracht würden als für die fünf weltweit größten Projekte des Roten Kreuzes (Syrien, Südsudan, Irak, Nigeria, Jemen) zusammen in einem ganzen Jahr.
Was ist hier los?
Darüber kann man sich empören und die Frage aufwerfen, wie es sein kann, dass die Spendenbereitschaft – vor allem bei einigen wenigen Superreichen – im Falle von Notre Dame so ungleich höher ausfällt als bei vielen viel dringlicheren sozialen oder ökologischen Projekten. Man kann ebenso darüber lamentieren, dass der Brand einer Kirche, bei dem es nur einen einzigen Verletzten gab, ungleich viel mehr mediale Aufmerksamkeit erhielt, als wenige Tage später eine Reihe von Sprengstoffanschlägen auf Kirchen in Sri Lanka, die über 200 Menschen das Leben kosteten. Über all das kann – und darf – man sich moralisch empören; aber spannender und interessanter ist es, sich die Frage zu stellen, was hier eigentlich los ist: warum das Feuer in Notre Dame die Menschen so viel mehr anzugehen scheint als der Terror in Sri Lanka, der Zyklon in Mosambik oder das Artensterben weltweit.
Natürlich werden solche Fragen in den Medien eifrig diskutiert. Als möglicher Grund wird die Macht der sekundenschnell digital und global verbreiteten Bilder der brennenden Kathedrale angeführt. Nicht zufällig weiß ja der oft bemühte Volksmund, ein Bild sage mehr als tausend Worte. So mag es durchaus sein, dass bewegende Bilder die Spendenbereitschaft steigern. Aber das allein genügt nicht, um das Phänomen Notre Dame zu verstehen. Erschütternde und berührende Bilder gibt es auch von anderen Anlässen. Was Notre Dame von ihnen unterscheidet, ist der Symbolgehalt der brennenden Kirche. Tatsächlich ist das Feuer von Paris ein Lehrstück dafür, wie wichtig und bedeutsam noch für den aufgeklärten Mediennutzer und Konsumenten des 21. Jahrhunderts die Sprache der Symbole ist.
Die Sprache der Symbole
So zitierte die Neue Züricher Zeitung kurz nach dem Feuer die Britische Psychologieprofessorin Hanna Zagefka mit den Worten: „Das ist nicht nur Stein und Holz, Notre-Dame hat Symbolik. Es geht um den Kern einer französischen und einer europäischen Identität.“ Das dürfte zutreffen. Eine Pariser Vorortkirche hätte unzweifelhaft weniger Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Notre Dame ist ein Symbol für Frankreich und Europa – ein Wahrzeichen, wie unsere Sprache trefflich sagt, denn es offenbart etwas, was sich sonst nicht leicht gewahren ließe: die kulturelle Identität einer Nation, ja eines ganzen Kontinentes. Doch das ist noch nicht alles. Patriotismus als Motiv mag eine Rolle spielen, aber Notre Dame ist noch weit mehr. Es geht hier auch um eine religiöse Dimension.
Die Kirche ist der Gottesmutter als der Schutzpatronin des Abendlandes geweiht. Damit ist sie mehr als eine einfache Marienkirche. Sie ist gebaut auf alter heidnischer und keltischer Religion, sie wurzelt tief in der Urspiritualität der matriarchalen Vorzeit und spricht symbolisch von Geborgenheit und Mutterschaft. Davon weiß der Intellekt des neuzeitlichen Menschen wenig. Ihm sind Konzepte wie Patriotismus oder Denkmalpflege näher. Aber was die Resonanz auf dieses Großfeuer ans Licht bringt, ist, dass tief unter der geläufigen rationalen Benutzeroberfläche unseres Alltagsbewusstseins eine tiefere, existenziell bedeutsamere Dimension des Menschseins schlummert, die sich plötzlich meldet, wo die Sprache der Symbole machtvoll spricht.
Das Wissen der Seele
Diese Tiefendimension kannten unsere Vorfahren als „Seele“. Neuere psychologische Richtungen würden vielleicht eher das Unbewusste – vor allem das kollektive Unbewusste – bemühen und damit auch nicht falsch liegen. Aber der alte Begriff der Seele hat den Vorteil, dass er zu erkennen gibt, dass wir es hier mit einer Dimension des Daseins zu tun haben, die den eigentlichen Kern unserer Existenz markiert. In ihr schlummern die vollkommen unerwarteten und unberechenbaren Potenziale menschlichen Handelns, wie sie sich in der Spendenbereitschaft für Notre Dame manifestieren. Hier haben wir es mit einer Sphäre zu tun, die sich jeder Quantifizierung entzieht und deshalb der KI verschlossen bleiben muss. Denn die Seele ist so wenig rational, dass Algorithmen ebenso wie moralische Vernunft an ihr verzweifeln möchten.
Und das ist gut so. Denn in der Tiefe unserer Seele liegt der Kern der Menschlichkeit und der Humanität. Insofern ist es nicht unmenschlich, wenn ein Spender hunderte Millionen für den Aufbau von Notre Dame in die Hand nimmt – und nichts für Flutopfer in Mosambik. Es ist durchaus menschlich, aber eben nicht in einem moralischen, sondern in einem existenziellen Sinne. Denn es verrät, dass es uns Menschen in Wahrheit nicht darum zu tun ist, intelligent oder moralisch zu handeln, sondern sinnstiftend. Sinn aber erschließt sich nicht der Rationalität, sondern nur der Seele – vermittelt durch Symbole oder Mythen.
Schrecken der Obdachlosigkeit
Unsere Seele weiß um die unbändige Gewalt des Feuers. Sie versteht, warum die Götter einstmals gar nicht glücklich waren, als Prometheus ihnen das Feuer raubte und den Menschen schenkte. Sie weißt um die alles Leben verzehrende Kraft der Flammen, und sie weiß um die Bedeutung eines schützenden Daches für das fragile, endliche Dasein eines Sterblichen. Sie weiß auch um die Sehnsucht nach Geborgenheit und Schutz durch eine Mutter – unsere Dame – und sie schreckt mit Recht die transzendentale Obdachlosigkeit der modernen Welt, die in Paris sinnenfällig geworden ist.
Die brennende Notre Dame wirft so gesehen durchaus nicht nur ein schlechtes Licht auf die mangelnde Moral der Zeitgenossen gegenüber anderen Hotspots dieser Welt. Vielmehr erweist sich Notre Dame sogar in Flammen noch als Wahrzeichen, das etwas Wahres zu erkennen gibt: die Wahrheit über unser fragwürdiges und liebenswertes Menschsein – die Wahrheit, dass wir ohne Sinn nicht leben können; und dass es unsere Seele und nicht unsere (sei sie künstlich noch so optimiert) Intelligenz ist, der alleine sich die Dimension des Sinns erschließt – und zwar durch eine Sprache der Symbole, die sich rational niemals berechnen und ermessen lassen wird.